Genossenschaftlich erbautes Ärztehaus Tengen

Dann machen wir das eben selbst!

Heftarchiv Gesellschaft
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Eine veraltete Infrastruktur und keine Nachfolger für die haus- und zahnärztlichen Praxen in Sicht – so sah die Lage der Stadt Tengen vor knapp zehn Jahren aus. Dann gründeten die Bürgerinnen und Bürger eine Genossenschaft und bauten ein modernes Ärztehaus. Dafür wurden sie jetzt von der Architektenkammer Baden-Württemberg ausgezeichnet. Ob der Plan mit den Praxisübernahmen aufgeht? Abwarten.

Mit der Gründung der Ärztehaus Stadt Tengen eG wurde ein neuer Weg entwickelt, wie sich Daseinsvorsorge – hier im Gesundheitsbereich – organisieren lässt. Ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie sich gesellschaftliche Herausforderungen in Koproduktion von öffentlicher Hand und Bürgerschaft lösen lassen“, lobte die Jury der Architektenkammer, die Tengen kürzlich den Preis „Beispielhaftes Bauen 2024“ verlieh.

Die Auszeichnung kommt neun Jahre, nachdem sich die Gemeinde im Landkreis Konstanz mit dem „Leitbild Tengen 2030“ beschäftigt hat. Die zahnärztliche und ärztliche Grundversorgung vor Ort zu erhalten, landete damals auf Platz zwei der Prioritätenliste der Bürgerinnen und Bürger. Die Voraussetzungen dafür, kam die Gemeinde schnell überein, waren nicht ideal: Die Gebäude, in denen die Gesundheitseinrichtungen untergebracht waren, entsprachen weder hinsichtlich ihrer Größe noch in Sachen Barrierefreiheit modernen Anforderungen – ein Nachteil für die Suche nach potenziellen Nachfolgerinnen und Nachfolgern.

Neue Räumlichkeiten erschienen daher notwendig. Nur: Wer sollte sie bauen? Und von welchem Geld? Die Stadt konnte die Investition nicht alleine tragen.

Die Idee kam sofort gut an

„Im Zusammenhang mit der Finanzierung brachte unser damaliger Bürgermeister Marian Schreier die Gründung einer Genossenschaft ins Spiel“, erzählt Zahnarzt Ulrich Mueller, der seit 1990 in Tengen praktiziert. „Ich war sofort begeistert von der Idee.“ Mueller war nicht der Einzige: Schon zum ersten Infotreffen, bei dem die Genossenschaftsidee vorgestellt werden sollte, kamen statt der 80 erwarteten mehrere hundert Interessierte. Im Oktober 2018 beschloss der Gemeinderat daraufhin, dass die Stadt die Gründung der Genossenschaft initiieren sollte, im Frühjahr 2019 war der Prozess abgeschlossen.

Innerhalb kürzester Zeit erklärten sich rund 350 Menschen aus der 1.300-Einwohner-Stadt Tengen und den acht zugehörigen Gemeinden bereit, einen Genossenschaftsanteil zum Mindestbeitrag von 500 Euro zu erwerben. Auch Mueller und seine Frau traten ein. Gemeinsam trugen die Genossinnen und Genossen in Tengen bis zum Spatenstich im selben Jahr 722.000 Euro Eigenkapital zusammen. Mehr als genug, um das Projekt zu starten. Die Restsumme wurde über Kredite und Fördermittel aus dem Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum (ELR) des Landes Baden-Württemberg finanziert.

Seit 2021 ist das Ärztehaus nun in Betrieb. Im Erdgeschoss befinden sich eine Kita und eine Tagespflege der Caritas für Seniorinnen und Senioren. Im ersten Stock ist die hausärztliche Gemeinschaftspraxis mit fünf Behandlungszimmern untergebracht.

Zahnarzt Mueller ist ins Dachgeschoss gezogen, die Kosten für den Innenausbau hat er selbst getragen. Jetzt stehen ihm 250 Quadratmeter und vier Behandlungszimmer zur Verfügung, über 100 Quadratmeter mehr als früher. Aber nicht nur das ist für ihn eine Verbesserung: „Ich freue mich sehr, dass wir Niedergelassenen den Menschen in der Gemeinde eine Mitgliedschaft wert waren und dass sie sich so dafür eingesetzt haben, ihre ärztliche und zahnärztliche Versorgung zu behalten. Das motiviert mich.“

Investoren bleiben außen vor

Ein weiterer großer Vorteil ist aus Sicht des Niedergelassenen, dass er die Räumlichkeiten von der Genossenschaft mietet. Dinge, die das Ärztehaus betreffen, werden in Versammlungen diskutiert und transparent entschieden. Diese Transparenz und Planungssicherheit weiß er zu schätzen.

Die Gemeinwohlorientierung unterstreicht auch Dr. Andreas Luckner als enormen Pluspunkt des Genossenschaftskonzepts. Er ist einer der beiden Vorstände der „Ärztehaus Stadt Tengen eG“ und betrieb bis 2020 eine Hausarztpraxis in der Stadt. Für die Niedergelassenen bedeutet die Genossenschaft aus Luckners Sicht: „Sie haben es nicht mit einem anonymen Investor zu tun, sondern mit einer Organisation, die von den Bürgerinnen und Bürgern sowie lokalen Unternehmen getragen wird. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie an einer langfristigen Perspektive interessiert sind.“

Zum Genossenschaftsprinzip gehört es, dass die Mitglieder Dividenden erhalten können. In Tengen gab es bisher jedoch noch keine Auszahlungen. Das sei aber von vorneherein klar gewesen, sagt Luckner: „Bereits im Vorfeld der Gründung wurde klar kommuniziert, dass mindestens in den ersten fünf Jahren nicht mit einer Dividende zu rechnen ist und dass das Ärztehaus kein Renditeobjekt ist.“

Die Ärztehaus-Genossenschaft sei als Investition in die Daseins- und nicht in die Altersvorsorge zu verstehen. Gemeinden oder anderen Gruppen, die ebenfalls Interesse an der Gründung einer Genossenschaft haben, rät das Vorstandsmitglied, sehr offen über das Thema Geld zu sprechen. In Tengen habe es bisher aufgrund dieser Klarheit, so seine Überzeugung, keine großen Konflikte wegen ausbleibender Dividenden gegeben. „Die Bürgerinnen und Bürger wollten ihren Beitrag leisten, dass es vorwärts geht. Sie wollten aktiv mitgestalten, statt auf 'die da oben' zu schimpfen. Diese Unmittelbarkeit des Genossenschaftskonzepts hat in Tengen eine wahnsinnig positive Dynamik entfaltet“, so Luckner.

Die Bürgerinnen und Bürger wollten ihren Beitrag leisten, dass es vorwärts geht. Sie wollten aktiv mitgestalten.

Dr. Andreas Luckner, Vorstand Ärztehaus Stadt Tengen eG

Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg ist für ihn zudem, dass sich ein Kern-Team findet, das federführend die Initiative übernimmt – dann steige die Wahrscheinlichkeit, dass die Bevölkerung mitzieht. „Als sinnvoll hat sich auch erwiesen, die Kommune mit ins Boot zu holen. Für die Ärztehaus Genossenschaft fungiert die Stadt postalisch als erster Ansprechpartner“, berichtet Luckner. „Außerdem nutzt die Genossenschaft die Infrastruktur der Verwaltung und zahlt dafür eine jährliche Pauschale.“

Noch ist die Nachfolge offen

Mueller wird bald 64 und möchte sich demnächst auf die Suche nach einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger für seine Zahnarztpraxis machen. Nach dem Umzug in das Ärztehaus fühlt er sich für die Suche gut aufgestellt. „In der alten Praxis war klar, dass ich die nicht hätte abgeben können“, sagt er. „Mit der Praxis im Ärztehaus haben sich meine Chancen aber definitiv vergrößert. Wir werden sehen.“

Genossenschaftsvorstand Luckner hofft ebenfalls, dass sich Tengen mit guten Rahmenbedingungen attraktiv für junge Ärztinnen und Ärzte gemacht hat: „Wir sind stolz darauf, was wir gemeinsam erreicht haben, um der Gesundheitsversorgung in unserer Stadt eine Zukunft zu eröffnen.“

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