Petition fordert Änderung des Grundgesetzes

Gibt es ein Recht auf ein Leben ohne Digitalzwang?

mg
Mehr als 40.000 Unterzeichner unterstützen eine Petition, die fordert, dass ein „Digitalzwang“ als Benachteiligung und Diskriminierung per Grundgesetz verboten wird. An immer mehr Stellen würden Bürger „genötigt“, sich einzuloggen, sich online zu registrieren oder eine App herunterzuladen – das gelte auch für das deutsche Gesundheitswesen.

Der Verein startete seine Petition am 23. Mai 2024 anlässlich des 75. Geburtstages des Grundgesetzes. Dies sei ein guter Anlass, um ein dringend nötiges Update zu fordern. „In Artikel 3 geht es um das Verbot von Benachteiligung und Diskriminierung. Dieser Artikel soll ergänzt werden um das Verbot, Menschen bei der Grundversorgung zu benachteiligen, wenn sie ein bestimmtes Gerät oder eine digitale Plattform nicht nutzen.“

In Estland sind Behördengänge 100 Prozent digital

Das kleine Estland (1,3 Millionen Einwohner) hat einen außergewöhnlichen Meilenstein erreicht: Ende Januar teilte die Regierung mit, dass 100 Prozent seiner Behördendienste nun digitalisiert sind. „Damit ist Estland weltweit führend in der digitalen Verwaltung und setzt Maßstäbe für andere Länder.“ Die letzte Dienstleistung, die digitalisiert wurde, waren Scheidungen, heißt es weiter. „Die Digitalisierung der Scheidung spiegelt Estlands Engagement wider, selbst die komplexesten Lebensereignisse einfacher und zugänglicher zu machen. Es geht nicht nur um Technologie, sondern darum, Dienstleistungen zu schaffen, die den Bedürfnissen der Menschen in schwierigen Zeiten gerecht werden“, sagte Enel Pungas, Leiter der Abteilung Bevölkerungsdaten im estnischen Innenministerium. Der Dienst umfasse eine obligatorische 30-tägige Bedenkzeit, die eine wohlüberlegte Entscheidungsfindung gewährleiste. Darüber hinaus biete er Instrumente für die Aufteilung des ehelichen Vermögens und Orientierungshilfen für Familien bei Sorgerechtsvereinbarungen. Über die Scheidung hinaus hat die digitale Verwaltung in Estland laut Mitteilung „eine beachtliche Akzeptanz erfahren: 85 Prozent der Geburtenregistrierungen und 56 Prozent der Heiratsanträge werden inzwischen digital abgeschlossen“.

Der deutsche IT-Berater Florian Marcus arbeitet in Estlands Hauptstadt Tallinn und bestätigt den zm, dass die Begeisterung in der Bevölkerung ungebrochen ist. Vergleichbare Vorstöße wie die Petition von Digitalcourage seien ihm nicht bekannt. Eine Benachteiligung durch die Digitalisierung sei „kein Thema im öffentlichen Diskurs“ – obwohl das digitale Gesundheitssystem von seinem Beginn an im Jahr 2008 verpflichtend war. Marcus: „Es erfreut sich größter Beliebtheit und schon bald wird es frischgebackene Volljährige geben, deren Gesundheitsdaten seit Geburt digital sind.“

Konkret beklagt Digitalcourage die Navigator-App der Bahn sowie die Praxis der Deutschen Post DHL Group, zur Nutzung der Packstationen eine E-Mail-Adresse von Bürgern zu fordern, aber auch Veränderungen im Gesundheitswesen. Dort herrsche „der zunehmende Zwang, Arzttermine über die Plattform des Unternehmens Doctolib zu vereinbaren“, heißt es. Ein Unding aus Sicht der Datenschützer.

Die These: Digitalzwang bedeutet handfeste Benachteiligung

Es dürfe nicht sein, „dass das Wahrnehmen von Grundrechten, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Nutzung öffentlicher Infrastruktur (Bahn, Post, medizinische Versorgung) davon abhängig ist, dass wir Internet haben, ein Smartphone bei uns tragen oder eine bestimmte App installieren“, heißt es in der Petition. Dieser „Digitalzwang“ bedeute eine handfeste Benachteiligung bis hin zum kompletten Ausschluss von Diensten, argumentiert der Verein. Dies betreffe nicht nur alte, arme oder kranke Menschen, die die entsprechende Technik nicht nutzen können. „Sondern es betrifft auch technikaffine Menschen, die sich gut auskennen und nicht ständig Verhaltensdaten in alle Welt senden oder wahllos neue Apps auf ihren Geräten installieren wollen.“

Darum fordert der Verein:

  • Teilhabe! 
    Digitalzwang schließe viele Menschen aus: alte oder kranke Menschen, Menschen mit Behinderung, Kinder und Menschen mit geringem Einkommen.

  • Nicht noch mehr Überwachung! 
    Der Zwang, für bisher allgemein verfügbare Dienste nun ein Smartphone oder bestimmte Apps nutzen zu müssen, führe „zu immer neuen detaillierten Datensammlungen, die eine umfassende (kommerzielle) Überwachung aller Lebensbereiche ermöglichen“.

  • Wahlfreiheit! 
    Wir wollen frei entscheiden, wann wir mit einem Smartphone unterwegs sein wollen – und ob wir überhaupt eines besitzen. Wir wollen auch frei entscheiden können, welche Software und welches Betriebssystem wir installieren. Ein verantwortlicher Gebrauch von Technik setzt voraus, dass wir uns auch dagegen entscheiden können.

  • Resilienz! 
    Gesellschaftliche Abhängigkeit von digitalen Lösungen ist ein Risiko. Es ist besser, wenn immer noch ein nicht-digitaler Weg zur Verfügung steht.

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