Der Drosten des 18. Jahrhunderts
Als 1720 in Marseille die Pest ausbrach, ergriff England umfassende Quarantänemaßnahmen und provozierte damit hitzige Debatten mit verschwörungstheoretischen Zügen, berichtet PD Dr. André Krischer vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Gerüchte über dunkle Machenschaften der Regierung.
„Wo heute auf ‚Corona-Demos‘ gegen eine ‚Neue Weltordnung‘ unter Führung von Bill Gates gewettert wird, kursierten damals Gerüchte über dunkle Machenschaften der Regierung. Es hieß, sie werde Freiheiten beschneiden, Militär im Land einsetzen und Familien voneinander trennen.“
Kritiker hielten jede Prävention für unnötig. Manch ein meinte gar, die Seuche könne den Briten überhaupt nichts anhaben. Krischer: „Paranoide Angst vor dem Errichten einer Diktatur, Sorge vor wirtschaftlichem Einbruch und ein Naturwissenschaftler im Zentrum der Kritik – die englische Debatte aus dem 18. Jahrhundert ähnelt auch in dieser Hinsicht unserer Gegenwart."
Man dachte ständig in verschwörungstheoretischen Kategorien
Dass sich die Gemüter im 18. Jahrhundert gerade in England erhitzten, war laut Krischer kein Zufall: „London hatte schon 1720 eine sehr selbstbewusste Öffentlichkeit mit Kaffeehäusern und einer einzigartig vielfältigen Presse- und Medienlandschaft, die von keiner Zensur mehr reglementiert wurde.“
Zudem hätten Verschwörungstheorien in England, das zu der Zeit auch unter dem Platzen der größten Spekulationsblase der Frühmoderne litt, eine lange Tradition: „Man dachte ständig in verschwörungstheoretischen Kategorien: Entweder fürchtete man sich vor der Unterwanderung durch ‚Papisten‘, also Katholiken, oder man unterstellte den jeweils Herrschenden, ein Arbitrary Government, eine Willkürherrschaft, errichten zu wollen“, erzählt Krischer.
Die Pest als Strafe Gottes
Auch auf religiöser Seite bestritt man die Maßnahmen der Regierung, so Krischer. Die Pest sei eine Strafe Gottes, besonders für London, diesen Sündenpfuhl der Ungläubigen, hieß es von den Kanzeln. Gegen die Seuche helfe nur Fasten, Beten, Buße und die gefasste Vorbereitung auf den Tod.
Im Fokus der Debatte stand ein Epidemiologe
Zur Zielscheibe der Debatte wurde 1720 – ähnlich wie heute der Virologe Christian Drosten – ein Arzt, Richard Mead (1673-1754). Ihm misstrauten viele Zeitgenossen aufgrund seiner strikten Empfehlungen zum Eindämmen der Pest, auch wegen seiner Nähe zur Politik und, anders als im heutigen Fall, seiner Religion, denn Mead war Quäker und nicht Anglikaner.
„1720 wurde über den Sinn von Quarantäne gestritten, weil es noch viele Mediziner gab, die die Pest nicht für ansteckend hielten. 2020 schloss man Schulen und Kitas, während noch darüber gestritten wurde, ob Kinder überhaupt relevante Überträger des Corona-Virus seien.“
Epidemien sind Stresstests für die Gesellschaft
Offenbar lasse sich umso leichter ein Skandal aus etwas machen, wenn wissenschaftlich unsichere Expertisen politische Relevanz erlangen und zugleich mit Personen identifiziert werden können - mit dem Virologen Christian Drosten 2020 und dem Epidemiologen Richard Mead 1720/21, mutmaßt der Historiker. Allerdings sei der „Resonanzraum“ für „Lügen und Falschnachrichten“ sowie Verschwörungstheorien in der Bevölkerung in beiden Fällen rasch wieder kleiner geworden. „Epidemien sind Stresstests für Gesellschaften und können bestimmte diskursive Muster verstärken.“
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