Dieses sexuelle Fehlverhalten erleben deutsche Ärztinnen und Ärzte
Zum zweiten Mal hat Medscape Deutschland eine Umfrage in der Ärzteschaft zu erlebtem oder beobachtetem sexuellen Fehlverhalten am Arbeitsplatz durchgeführt. An der aktuellen Online-Umfrage beteiligten sich 773 Medizinerinnen und Mediziner. Verglichen mit den Ergebnissen der ersten Befragung im Jahr 2019 wurde etwas seltener sexuelles Fehlverhalten erlebt beziehungsweise beobachtet. Das könnte mit den Entwicklungen der gesamtgesellschaftlichen #MeeToo-Debatte zu tun haben, vermuten die Autoren.
Allerdings fehlt es laut den Antworten in den Praxen und Kliniken vielerorts immer noch an Möglichkeiten, sexuelles Fehlverhalten zu melden und Unterstützung zu erhalten, etwa durch systemische Trainings. Im Fazit heißt es daher auf der News-Plattform für Ärzte, besonders Kliniken müssen klare Präventions- und Meldesysteme etablieren, um das Problem anzugehen.
Jede(r) Fünfte hat im Klinikalltag schon Übergriffe beobachtet
Insgesamt gaben 5 Prozent der Ärztinnen und Ärzte an, in den vergangenen drei Jahren selbst sexuelle Belästigung, Missbrauch oder Fehlverhalten erfahren zu haben, darunter mehr Frauen (neun Prozent) als Männer (drei Prozent). 14 Prozent aller Umfrageteilnehmer haben solche Situation schon einmal beobachtet. Mit 20 Prozent erheblich mehr in Kliniken als in Praxen mit acht Prozent. Ein Prozent gab an, dass ihnen sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wurde (zwei Prozent der Männer, null Prozent der Frauen).
Konkret nach dem erlebten Fehlverhalten gefragt, antworteten von den Betroffenen mit 74 Prozent die meisten, dass durch körperliche Annäherungen einen als angenehm und angemessen empfundener „Sicherheitsabstand“ unterschritten wurde oder sie unerwünscht Körperkontakt erdulden mussten. 60 Prozent gaben an, dass sie sich anzüglichen Kommentaren bezüglich ihres Aussehens beziehungsweise ihrer körperlichen Statur oder eindeutigen Blicken auf bestimmte Körperregionen ausgesetzt sahen. 31 Prozent wurden direkte oder indirekte Vorschläge für sexuelle Aktivitäten gemacht.
Fast zehn Prozent der Betroffenen berichten von „Beinahe-Vergewaltigungen“
26 Prozent waren ständigen Fragen nach Dates oder unangenehmer Aufmerksamkeit ausgesetzt. 23 Prozent haben unerwünschte Nachrichten mit sexuellen Inhalten von Kolleginnen oder Kollegen erhalten. Elf Prozent musste Exhibitionismus oder unsittliche Berührungen einer anderen Person erdulden, neun Prozent erlebten derart erzwungene Berührungen, die einer beinahe Vergewaltigung glichen und sechs Prozent erhielten Angebote, für sexuelle Handlungen eine berufliche Beförderung zu bekommen.
Von den Medizinern, die sexuelles Fehlverhalten beobachtet haben, bemerkten 70 Prozent anzügliche Kommentare,59 Prozent körperliche Annäherungen und 52 Prozent unerwünschte Berührungen. 31 Prozent bemerkten Angebote zum Sex, 26 Prozent für ein Date.
Insgesamt 43 Prozent der betroffenen Ärztinnen und Ärzte gaben einen unangemessenen Kontakt in den vergangenen drei Jahren an. 34 Prozent zwei bis drei Vorfälle, elf Prozent vier bis fünf und von mehr als sechs Fällen berichteten neun Prozent.
Vorfälle ereignen sich direkt dort, wo Mitarbeitende eigentlich geschützt sein sollten
Täter waren mit 57 Prozent am häufigsten Ärzte selbst und in den meisten Fällen in der Hierarchie über den Opfern stehende Täter. 16 Prozent waren Pflegekräfte. Am häufigsten kam es zu Vorkommnissen in der Chirurgie (17 Prozent) und der Gynäkologie (14 Prozent). Insgesamt waren mit 69 Prozent mehr als zwei Drittel der Täter männlich. Die Taten passierten meistens im Behandlungszimmer, dem Büro des Täters/der Täterin oder auf dem Flur. Das zeigt auch: übergriffiges Verhalten passiert in den zentralen Arbeitsbereichen, in denen Mediziner und Pflegepersonal eigentlich geschützt sein sollten.
Danach gefragt, wie sie sich gewehrt haben oder ob sie den Vorfall meldeten, antworten 40 Prozent, sie hätten den Täter aufgefordert, das Fehlverhalten zu unterlassen. Die Mehrheit gab an, sie hätten die Tat nicht gemeldet. Gerade einmal 14 Prozent wandten sich an den Vorgesetzten, elf Prozent an einen Kollegen/eine Kollegin und nur sechs Prozent an die Personalabteilung.
Jede(r) fünfte Betroffene kündigt
Haben derartige Übergriffe Auswirkungen auf die Arbeit? Mit 40 Prozent haben die meisten im Anschluss versucht, den Täter zu meiden, 34 Prozent gaben keine Auswirkungen an, 20 Prozent haben gekündigt, weitere 20 Prozent spielen mit dem Gedanken, zu kündigen – 17 Prozent gaben an, sich seitdem auf der Arbeit schlechter konzentrieren zu können. Im privaten Bereich änderte sich für die meisten nichts. 20 Prozent schliefen schlechter, elf Prozent tranken mehr Alkohol. Insgesamt 77 Prozent mussten weiter mit dem Täter zusammenarbeiten.
Trotzdem scheint sexuelles Fehlverhalten am Arbeitsplatz für den Großteil der Arbeitgeber weiterhin kein Thema zu sein, schreibt Medscape. Immerhin gab knapp die Hälfte der Teilnehmenden an, dass derartiges Fehlverhalten im Job in den letzten fünf Jahren ernster genommen würde.
Übergriffe durch Patienten sind selten(er)
Von sexuellem Fehlverhalten durch Patientinnen oder Patienten berichten nur wenige Befragte: Zehn Prozent wurden mindestens einmal nach einem Treffen gefragt, acht Prozent empfanden mindestens einen Annäherungsversuch als offensichtlich sexuell motiviert.
In den Freitextkommentaren schreiben Teilnehmende, dass Betroffene entschieden gegen die übergriffige Person vorgehen sollten, in dem sie diese zurechtweisen und sogar die Polizei involvieren. Bei jedem Vorfall sollte „transparent und ehrlich“ kommuniziert, aber auch Vertrauenspersonen und Gleichstellungsbeauftrage eingeschaltet werden, heißt es dort. Ein weiterer Rat lautet: „Suchen Sie den Fehler nicht bei sich“, „Auf jeden Fall melden und nicht lockerlassen, wenn der Vorgesetzte versucht, zu beschwichtigen“ und Betroffene sollten „möglichst viele Anlaufstellen gleichzeitig nutzen“.
Medscape hatte zwischen April und September 2024 in Deutschland lebende und arbeitende Ärztinnen und Ärzte online befragt und von 773 Personen vollständig verwertbare Antworten erhalten. 67 Prozent der Teilnehmenden waren Männern, in der Mehrzahl über 45 Jahre alt. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ.