„Gesundheitspolitik arbeitet wie ein Bergwerk“
„Die Gesundheitspolitik und insbesondere das Bundesgesundheitsministerium erinnert derzeit teilweise an eine Art Bergwerk“, sagte Dr. Andreas Gassen mit Blick auf den Veranstaltungsort der heutigen KBV-Vertreterversammlung (VV) in Essen. Hier werde – oft auch quasi „unter Tage“, nämlich ohne Einblicksmöglichkeit von außen – an einer Vielzahl von Gesetzen gearbeitet. Ungefähr 15 Gesetzesvorhaben seien derzeit in der Pipeline, sagte Gassen. Doch zu Tage gefördert werde bislang wenig: Fristen würden immer wieder verlängert, Schwerpunkte verschoben, kritisierte er. Der KBV-Chef warnte vor einer neuen „Architektur“ für die medizinische Versorgung, die zum Beispiel aus sogenannten Gesundheitskiosken, Primärversorgungszentren und Community Health Nurses bestehe. Tausende Ärztinnen und Ärzte würden in den kommenden Jahren ihre Praxis aufgeben, viele davon ohne eine Nachfolge zu finden. Gassen: „Und welche Lösung schlägt die Politik vor? Sie will minderwertige Ersatzangebote schaffen, um die Lücken zu füllen. Wenn die Menschen keinen Termin in einer Arztpraxis mehr bekommen, gehen sie zum Kiosk. Klingt das nach einem sinnvollen Fortschritt?“
Aus Sicht der ambulanten Versorgung gebe es derzeit wenig Anlass zur Zuversicht, argumentierte Gassen weiter. Er forderte Rahmenbedingungen, die es den Ärzten in den Praxen erlauben, ohne überbordende Regulierung ihre Patienten zu versorgen und dafür eine ihrer Arbeitsleistung und Ausbildung entsprechende Vergütung zu bekommen. Als ein Beispiel für die Defizite der aktuellen Gesundheitspolitik führte Gassen die geplante Krankenhausreform an, die kein rein stationäres Thema sei. Er sehe eine stärkeren Ambulantisierung von Leistungen. Gassen sprach sich erneut für eine Gebühr für diejenigen Menschen aus, die eigenständig ohne vorherige medizinische Ersteinschätzung eine Notaufnahme aufsuchen.
„Lauterbach ebnet den Weg in die Zwei-Klassen-Medizin“
Auch Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender KBV-Vorstandsvorsitzender, kritisierte die aktuelle Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Man könne meinen, ärztliche Versorgung werde dort als ein verzichtbarer Luxus betrachtet, vor allem in der Grundversorgung. Er kritisierte eine „Versorgung to go“ in Apotheken mit Impfen und Blutdruckkontrolle, sowie in Gesundheitskiosken eine „Versorgung light“ mit medizinischer Beratung. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warf er vor: „Mit solchen Plänen schaffen Sie den Weg in eine echte Zwei-Klassen-Medizin!“
Das Ministerium erwecke den Eindruck, dass man sich in Deutschland eine „arztgeführte“ Primärversorgung nicht mehr leisten könne, so der KBV-Vize. Das sei laut Hofmeister geradezu zynisch! Sinnvoller sei, die Versicherten auf ihrem Weg durch das System besser zu leiten, als dass sie sich diesen Weg selbst bahnen müssten.
KBV will Verantwortung für die Digitalisierung übernehmen
Für eine patienten- und nutzerorientierte Digitalisierung im Gesundheitswesen sprach sich Dr. Sibylle Steiner, Mitglied des KBV-Vorstands aus. Die KBV sei bereit, Verantwortung für die Digitalisierung zu übernehmen und aktiv mitzugestalten. Steiner: „Nicht das Ob ist Inhalt unserer Kritik, sondern das Wie. Digitalisierung biete viele Chancen für die ambulante medizinische Versorgung von morgen. Allzu oft kreisten Digitalisierungsprozesse aber hauptsächlich um technische Machbarkeit, Standards, Kontrolle und Nachweispflichten. Wir als KV-System wollen nicht nur über das technisch Notwendige und Machbare reden, sondern vor allem über digitale medizinische Versorgungskonzepte“, erklärte Steiner.
Die Beratungen in Essen befassten sich ferner mit einer Vielzahl von Anträgen der Delegierten. So setzt sich die VV etwa für eine Flexibilisierung der ärztlichen und psychotherapeutischen Leistungserbringung mit digitalen und telemedizinischen Hilfsmitteln unter bestimmten Bedingungen ein. Die Leistungen sollten – sofern medizinisch vertretbar – von der Bindung der Erbringung am Praxisort gelöst werden. Unabdingbare Voraussetzung hierfür müsse aber die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung sein. Die überwiegende Zahl der Fälle müsse vor Ort behandelt werden und Patienten müsse eine Konsultation in der Praxis in Präsenz zeitnah möglich sein.