Großes Forschungsprojekt zur Rolle der Zahnmedizin im Nationalsozialismus

Für eine Kultur der Erinnerung – in Gegenwart und Zukunft

pr
Der zahnärztliche Berufsstand war viel mehr in den Nationalsozialismus verstrickt als bisher bekannt. Das zeigt ein groß angelegtes Forschungsprojekt zur NS-Zeit, das heute vorgestellt wurde. Wissenschaftlich-kritisch wurde die Rolle von Zahnärzten als Täter und Verfolgte zwischen 1933 bis 1945 aufgearbeitet.

Das Ausmaß der Verfehlungen ist größer als bisher angenommen. Wer waren die Täter? Und wer die Opfer? Darauf gibt das Projekt, das heute auf einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt wurde, umfassend Antworten. Mit der Aufarbeitung steht der Berufsstand zu seiner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Das Projekt versteht sich als integraler Bestandteil des beruflichen Selbstverständnisses von Zahnärztinnen und Zahnärzten.

Im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung im Auftrag von Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung (KZBV), Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und Deutscher Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) und in Kooperation mit unabhängigen Wissenschaftlern der Universitäten Düsseldorf und Aachen wurde in den letzten vier Jahren die Rolle der Zahnheilkunde im NS-Regime systematisch aufgearbeitet. Jetzt liegt die erste umfassende historisch-kritische Darstellung der Geschichte der Zahnärzteschaft und ihrer Organisationen in den Jahren 1933 bis 1945 sowie in der Nachkriegszeit vor.

Die Täter: Dem NS-Regime vielfach angedient

Mit der Präsentation der Projektergebnisse übernimmt die Zahnärzteschaft - über die eigentliche Wissensvermittlung hinaus - Verantwortung für diesen dunklen Teil ihrer Geschichte. Projektleiter für den Komplex „Zahnärzte als Täter“ ist Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls der RWTH Aachen. Die für Groß überraschenden Erkenntnisse aus dem Projekt: die hohe Beteiligung von Zahnärzten in der NSDAP, die hohe Anzahl von Zahnärzten an Kriegsverbrechen und ihr hoher Organisationsgrad in der SS.

Groß machte vor der Presse deutlich, dass die Zahnärzteschaft sich dem NS-Regime in vielerlei Hinsicht andiente. In seinem Projekt beleuchtete er zahnärztliche Standespolitiker und Hochschullehrer, Zahnärzte in der Waffen-SS und in den KZs, Zahnärzte als angeklagte Kriegsverbrecher, die Involvierung von Zahnärzten bei Zwangssterilisation und Zwangsarbeit sowie den Umgang mit der NS-Vergangenheit (1949 bis 1981).

1938 waren bereits neun Prozent aller Zahnärzte Mitglieder der SS

Die Ergebnisse: Im Jahr 1938 waren bereits neun Prozent aller Zahnärzte Mitglieder der Allgemeinen SS, gut 60 Prozent der zahnärztlichen Hochschullehrer traten bis 1945 in die NSDAP ein. Mindestens 300 Zahnärzte engagierten sich in der Waffen-SS, etwa 100 Zahnärzte waren als Zahnärzte in Konzentrationslagern tätig und mindestens 48 Zahnärzte wurden ab 1945 als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt.

Nach dem Krieg kam es zu keinem wirklichen Neuanfang: So waren sechs der sieben zwischen 1949 und 1981 amtierenden Präsidenten der DGZMK ehemalige Mitglieder der NSDAP. Gleiches galt für die Hälfte der von 1949 bis 1982 ausgezeichneten Ehrenmitglieder und -medaillenträger. Dagegen gingen nur zwei Prozent dieser Ehrungen an entrechtete jüdischen Kollegen.

Für den Komplex „Verfolgte Zahnärzte“ ist Dr. Matthis Krischel, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, verantwortlich. „Zu den Verfolgten im Nationalsozialismus gehörten auch Zahnärztinnen und Zahnärzte, Dentistinnen und Dentisten, Studierende der Zahnmedizin und andere Personen, die in Praxen und Dentallaboren arbeiteten.“, sagte Krischel vor der Presse.

Die Verfolgten: Würdigung bleibt weiter Aufgabe der Medizingeschichte

„Das Erforschen von Lebenswegen und Würdigung der Verfolgten bleiben weiterhin Aufgaben für Medizingeschichte und Zahnärzteschaft,“ sagte Krischel. „Anhand der untersuchten Biografien lassen sich die Schicksale abbilden, die für das Kollektiv der Verfolgten insgesamt stehen.“

1.292 Biografien rekonstruiert

Im Rahmen des Projekts konnten Biografien von 1.292 Personen rekonstruiert werden. In weiteren 500 Fällen sind kaum Details bekannt. Die überwiegende Mehrheit wurde auf Grund ihrer jüdischen Religion oder Abstammung verfolgt, einige auch wegen politischer Opposition gegen die Nationalsozialisten, wegen aktiven Widerstands oder wegen ihrer sexuellen Orientierung.

Dass unter den Opfern auch ein Zeuge Jehovas und eine ermordete psychisch erkrankte Zahnärztin waren zeigt, aus welchen unterschiedlichen Gründen Menschen in das Fadenkreuz der Nationalsozialisten geraten konnten.

Mehr als 60 Prozent der verfolgten Personen konnte aus Deutschland fliehen. Diese Flucht führte häufig über mehrere Etappen und im Zielland konnten viele nicht mehr in ihrem ursprünglichen Beruf arbeiten. Wer das Land vor dem Krieg nicht verlassen hatte, war bald von Deportation in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager bedroht.

Einige wählten den selbstbestimmten Suizid, um der Deportation zu entgehen. Fast ein Viertel der Zahnbehandler wurde deportiert und in den Lagern ermordet. Nur eine Minderheit überlebte entweder die KZs oder konnte in Deutschland untertauchen.

Vorgeschichte des Projekts

Für KZBV, BZÄK und DGZMK ist das Projekt viel mehr als nur wissenschaftlich-fundierte Forschung. Der Präsident der BZÄK, Dr. Peter Engel, ging vor der Presse auf die Motivation der Förderinstitutionen zur Aufarbeitung ein. Viele Bereiche der NS-Zahnmedizin seien bisher weiße Flecken auf der Forschungslandkarte gewesen, erklärte er. Es gehe zum einen darum, Wissenslücken zu schließen und historische Zusammenhänge zu erkennen.

Engel: "Eine Bringschuld der Zahnärzteschaft"

Aber Engel sieht darin noch mehr: „Es geht um eine Kultur der Erinnerung“, sagte er und sprach von einer Bringschuld der Zahnärzteschaft in ihrem Selbstverständnis als freier Beruf. „Wenn wir als Zahnärzte unser Genfer Gelöbnis ernst nehmen, kommen wir an einer Aufarbeitung nicht herum“.

Engel: „Das Forschungsprojekt ist ein Signal, dass die Zahnärzteschaft sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist - und diese wahrnimmt. Wir wollen als Berufsgruppe verantwortungsbewusst und mit Zuversicht in die Zukunft sehen, daher haben wir auch diese Aspekte unserer Vergangenheit detailliert aufarbeiten lassen. Die Aufarbeitung hilft uns, aus der Vergangenheit zu lernen, aus ihr wichtige Lehren zu ziehen, Anzeichen für Missstände zu erkennen, kurz: unseren moralischen Kompass zu justieren und korrekt auszurichten. Das gebietet nicht zuletzt auch das zahnärztliche Ethos.“

„Verantwortung verjährt nicht“, erklärte der Präsident. Für die späte Aufarbeitung nannte Engel mehrere Gründe: „Es schien zunächst gerechtfertigt – und es war natürlich auch sehr bequem –, von Einzeltätern auszugehen. Von kollektiver Verantwortung war also lange nicht die Rede.“

Hinzu kam laut Engel, dass das universitäre Fach Medizingeschichte sich lange nicht der Aufarbeitung der NS-Medizin widmete. Erst in den 1980er Jahren änderte sich das, und dann standen zunächst die Ärzte im Fokus.

„Überdies“, ergänzte Engel, „waren bis zur Jahrtausendwende in vielen Berufsgruppen – so auch in der Ärzteschaft und der Zahnärzteschaft – noch Loyalitätsbeziehungen wirksam: Alte Schüler-Lehrer-Verhältnisse, freundschaftliche Verbindungen zu akademischen, zum Teil politisch verstrickten Mentoren und Gefühle der Dankbarkeit minderten die Bereitschaft zur Aufarbeitung. Man wollte an diesen Dingen nicht rühren. Diese Loyalitätskonflikte verloren erst langsam an Bedeutung.“

Hinzu kamen noch 2.000 konkrete Enthüllungen, über die man einfach nicht mehr hinwegsehen konnte - wie etwa über den ersten DGZMK-Nachkriegspräsidenten Hermann Euler.

Frankenberger: "Wir Zahnärzte haben versagt!"

Hier knüpfte Prof. Dr. Roland Frankenberger, Präsident der DGZMK, an und sprach von einer schockierenden Erkenntnis über vorauseilenden Gehorsam unter aktiver Beteiligung des Berufsstandes: „Wir können uns nicht länger herausreden mit dem Argument, dass unsere Berufsgruppe nur für die Mundgesundheit zuständig war und daher kaum in NS-Verbrechenskomplexe verwickelt sein konnte. Das Gegenteil ist wahr: Die Zahnärzteschaft war sozusagen mittendrin, sie war integraler Bestandteil des NS-Systems.“

Frankenberger: „60 Prozent der untersuchten Hochschullehrer für Zahnmedizin waren Mitglieder der NSDAP. 50 Prozent aller von der DGZMK nach dem zweiten Weltkrieg ausgezeichneten Wissenschaftler, die altersmäßig dafür in Frage kamen, waren ebenfalls ehemalige NSDAP-Mitglieder. Das ist eine Prozentzahl, die meine Befürchtungen und Ahnungen deutlich übertrifft.“

Frankenberger: „Wir Zahnärzte – und allen voran die Vertreter der Wissenschaft – haben versagt: Im „Dritten Reich“ durch politisch angepasstes Verhalten und in den folgenden Jahrzehnten durch Ausblenden und ein dauerhaftes Wegschauen.“ „Es macht mich sprachlos, dass wir uns erst 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hier versammeln, um über die Verantwortung der Zahnärzteschaft zu sprechen“, betonte Frankenberger weiter.

Er kündigte Konsequenzen aus den in dem Forschungsprojekt beschriebenen Fakten an. So solle etwa Zahnmedizin im Nationalsozialismus bei der Umsetzung der neuen zahnärztlichen Approbationsordnung an den universitären Standorten gelehrt werden.

Die DGZMK wolle sich ferner für die Umbenennung von Preisen, Medaillen und Institutionen einsetzen, die nach Nationalsozialisten benannt sind. Im Rahmen des Deutschen Zahnärztetages 2020 werde ein Hauptvortrag zum Thema in das wissenschaftliche Hauptprogramm aufgenommen und eine Gedenkveranstaltung abgehalten.

Eßer: "Wir müssen durch unser eigenes Wirken Vorbilder sein!"

Dr. Wolfgang Eßer, Vorsitzender des Vorstandes der KZBV, zog vor der Presse Bilanz und nahm eine standespolitische Einordnung vor: „Wir müssen durch unser eigenes Wirken Vorbilder sein. Unsere Aufgabe als nunmehr dritter Generation seit Ende des Zeiten Weltkrieges muss es sein, eine Wiederholung dieser unfassbaren Verbrechen zu verhindern.“

Eßer weiter: „Die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Untersuchung zeigen, dass wir gemeinsam wachsam sein müssen, damit sich solche schrecklichen Ereignisse niemals wiederholen. Der Berufsstand in seiner Gesamtheit ist entschlossen, aktiv seinen Beitrag zu leisten, damit heute und künftig nie wieder Mitbürger stigmatisiert und marginalisiert werden – oder um ihr Leben fürchten müssen.“

„Der Gedanke an die politische Verstrickung des Berufsstandes in der NS-Zeit ist bedrückend, er schmerzt und beschämt, ebenso wie der Gedanke an Zahnärztinnen und Zahnärzte die Opfer der Nationalsozialisten wurden“, fuhr Eßer fort.

„Aber es ist ein notwendiger Schmerz, der die Erinnerung an Geschehenes wachhält. Er zwingt uns zur Auseinandersetzung, zur Selbstreflektion, er zwingt uns, lange ausgeblendete Realitäten anzuerkennen. Er zwingt uns, über Recht und Unrecht, über Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, über Ausflucht und Verantwortung nachzudenken. Er macht uns demütig, aber auch sensibel für Fehlentwicklungen, ideologische Verirrungen und Intoleranz, welche im gesellschaftlichen Diskurs gegenwärtig wieder verstärkt konstatiert werden müssen. Ein Teil der Bevölkerung sucht nach Orientierung, ein anderer scheint geschichtsvergessen zu sein oder gar wieder empfänglich für nationalistisches Gedankengut. Wenn wir aus unserer Geschichte eine Lehre ziehen, dann diejenige, dass wir bereits den Anfängen entschieden wehren müssen und nicht erst ein bestimmtes Ausmaß von Unrecht oder politischer Eskalation abwarten dürfen.“

Begleitende Artikelserie in den zm

Weitere Informationen zu den Ergebnissen des gemeinsamen Projekts kann auf den Websites vonKZBV,BZÄKundDGZMK abgerufen werden, darunter Kurzdossiers zu Schwerpunktthemen der Forschungsarbeit.

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