Walter Sonntag – Zahnarzt und zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher
Sonntag wurde am 13. Mai 1907 im lothringischen Sablon bei Metz geboren. Er war das jüngste von drei Kindern eines katholischen Ministerialsekretärs. Die Familie war nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gezwungen, Lothringen zu verlassen und zog ins Saarland. Hier legte Sonntag in der Kleinstadt Merzig das Abitur ab. Anschließend studierte er Zahnheilkunde und Medizin in München, später in Kiel, wo er Ende 1932 das zahnärztliche Staatsexamen bestand und im Folgejahr „Über die Lymphogranulomatose“ zum Dr. med. dent. promovierte.2
Im November 1932 erhielt er die Approbation als Zahnarzt. Zu diesem Zeitpunkt praktizierten in Deutschland rund 15.000 Zahnärzte und knapp 20.000 nichtakademische Dentisten.3 Nach seiner Zulassung fungierte Sonntag zwei Jahre lang als Assistent von Albin Hentze an der Universitätszahnklinik in Kiel. Ab Herbst 1934 war er in der Stadt als Zahnarzt niedergelassen; hier praktizierte er für etliche Jahre in der Nähe des Universitätsklinikum in der Dahlmannstraße.4
In den Folgejahren nahm er das zwischenzeitlich ausgesetzte Medizinstudium wieder auf und absolvierte 1938 an der Universität Kiel die ärztliche Prüfung. Nach dem Praktischen Jahr erlangte er im Mai 1939 die ärztliche Approbation. Zu einer fachärztlichen Weiterbildung oder einer praktisch-ärztlichen Tätigkeit kam es aber nie.
Sonntag galt schon in den Anfängen seines Studiums als begeisterter Nationalsozialist. Der NSDAP trat er – wie viele zeitgenössische Zahnärzte5 – im Jahr 1933 bei (Nr. 2.683.413) und der Allgemeinen SS im Januar 1934. Seit Spätsommer 1939 war Sonntag zudem Mitglied der Waffen-SS; hier arrivierte er bis 1942 zum SS-Hauptsturmführer.6 Die Waffen-SS war die radikalste NS-Organisation – sie stand wie keine andere für Staatsterror, Verfolgung und Massenmord. Ihr schlossen sich etwa 300 Zahnärzte an.7
Im KZ führte er Menschenversuche durch
Aus dem Kreis der Waffen-SS rekrutierten sich auch die KZ-Zahnärzte und -Ärzte. Sonntag war hier keine Ausnahme: Von Herbst 1939 bis Ende Februar 1940 war er im KZ Sachsenhausen tätig, wo er an Menschenversuchen beteiligt war.
Rinnen et al. fassen den Sachverhalt wie folgt zusammen8: „He [...] participated in experiments involving the powders F1000 and F1001, which were used to develop resistance to mustard gas; these experiments were carried out on 50 prisoners.” Bei „mustard gas” („Senfgas“) handelte es sich um den Kampfstoff Lost, der bereits im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurde. Die Versuche wurden damit begründet, dass es wichtig sei, für den Fall feindlicher Gasangriffe über Gegenmittel zu verfügen.
Bei den Versuchen wurde die Haut der Opfer mit dem Giftgas bestrichen. Die auftretenden Verletzungen wurden registriert und mit Versuchsstoffen wie F1001 (Bezeichnung für eine modifizierte Form des Heilpulvers „Frekasan“) „behandelt“. Ein ehemaliger Häftling gab späterhin hierzu zu Protokoll: ,,Das Gift wurde im septischen OP durch Dr. Sonntag aufgetragen. Die Häftlinge gingen anschließend in ihre Baracken zurück. Nach 24 Stunden mußten sie sich wieder vorstellen. In dieser Zeit stellten sich auf den Impfstellen große Blasen – wie bei einer Verbrennung – ein, begleitet von hohem Fieber. Nach einigen Tagen erstreckten sich diese Verbrennungen auf den ganzen Arm und teilweise bis auf den Hals. Alle 24 Stunden wurden die Verletzungen fotographiert, um die Entwicklung festzuhalten. Jeder wurde mit einem anderen Mittel behandelt, so daß die Aufnahmen auch die Wirkung des betreffenden Medikamentes festhielten.“9
Einige KZ-Insassen starben an den Folgen. In Sonntags eigenem schriftlichem Bericht, der im Oktober 1939 über 23 geimpfte Fälle dokumentiert, klingt der Sachverhalt weitaus harmloser10 : Dort ist von „Impflingen“ die Rede, das Applizieren des chemischen Kampfstoffs wird lapidar als „Impfung“ bezeichnet und verbrannte Areale als „Impfstellen“.
Nach dem Aufenthalt in Sachsenhausen absolvierte Sonntag eine kurze Militärübung in Stralsund und wurde dann – im Mai 1940 – zum Standortarzt im Frauen-KZ Ravensbrück befördert. Hier lernte er seine spätere Frau, die Gynäkologin Gerda Weyand11 kennen – sie war dort ebenfalls KZ-Ärztin.
Augenzeugen zufolge führte Sonntag in Ravensbrück auch sogenannte „Abspritzungen“ durch. Dabei handelte es sich um tödliche Einspritzungen an „arbeitsuntauglichen“ Insassinnen (oft mit dem Wirkstoff Phenol): „Ungefähr fünfmal sahen wir Dr. Sonntag abends in den Krankenbau kommen mit einer Spritze in der Hand, ohne daß er von uns, wie es sonst der Fall war, Assistenz verlangt hätte. Wir hörten, wie er in ein Zimmer ging, und am folgenden Morgen fanden wir in diesem Zimmer eine Leiche.“
Die Aufnahmeuntersuchungen führte Sonntag den Betroffenen zufolge unter Gewaltanwendung und mit der Reitpeitsche durch. Die Frauen mussten nackt vor ihn treten: „Die ärztliche Untersuchung beruhte nur auf Verabreichung von Schlägen und Fußtritten.“12 Nach 1945 wurde mehrfach bezeugt, dass Sonntag Häftlinge brutal misshandelt habe – unter anderem mit Schlägen ins Gesicht und Peitschenhieben in die (eiternden) Wunden erkrankter Häftlinge. Zudem sei es vorgekommen, dass er auch seine Frau geschlagen habe. Überdies wurde an seiner Fachkompetenz gezweifelt: Entgegen seiner Funktion als Standortarzt sei er bekanntermaßen „kein richtiger Arzt, sondern nur ein Zahnarzt gewesen“. Schließlich habe er seine „Revierstunden“ in betrunkenem Zustand abgehalten.13
Über die Misshandlungen und die „Abspritzungen“ hinaus war Sonntag auch an den tödlichen Selektionen von KZ-Häftlingen beteiligt.14
Nach rund eineinhalb Jahren wurde Sonntag in Ravensbrück durch Gerhard Schiedlausky ersetzt. Anlass für den Wechsel war aber nicht etwa die weithin bekannte Misshandlung der weiblichen Häftlinge, sondern „die Liebesbeziehung zu seiner späteren Frau“ sowie der Umstand, dass ein „Ehemann als Vorgesetzter seiner Frau an der gleichen Stelle“ beschäftigt war.15 So wurde Sonntag Anfang Dezember 1941 an die Ostfront versetzt.
Er „legitimierte“ die Zwangssterilisationen
Schäfer zufolge hatte er sich freiwillig als Truppenarzt an die Front gemeldet, wogegen Stoll von einer „Zwangsversetzung“ ausgeht, was in Anbetracht der Kritik am „Zusammenwirken“ des Ehepaars Sonntag in Ravensbrück wahrscheinlicher sein dürfte.16 In jedem Fall klagte Sonntag im Osten nach einigen Monaten über Herzbeschwerden und Beklemmungsgefühle, so dass er Anfang Oktober 1942 nach Dachau in die „Gesundheits- und Versorgungsprüfstelle der Waffen-SS“ versetzt wurde.17
Hier nahm er die Arbeit an seiner zweiten Dissertation auf, die er 1943 in München erfolgreich als Promotionsleistung vorlegte. Sie befasste sich mit der „Medizinalgesetzgebung seit 1933“ und bekräftigte die rechtlichen Maßnahmen zur Umsetzung der verbrecherischen „NS-Gesundheitspolitik“ wie die Zwangssterilisation vermeintlich „erbkranker“ Mitbürger. Hierbei resümiert Sonntag: ,,In der Erkenntnis, daß nur ein erbgesundes, hochwertiges Volk die Voraussetzung für einen gefestigten Staat darstellen kann, hat die Staatsführung durch eine zielbewußte Gesetzgebung die Volksentwicklung in die richtigen Bahnen gelenkt.“18
1943 wurde Sonntag dann erster Standortarzt im KZ Natzweiler-Struthof und 1944 war er im Nebenlager Jamlitz des KZ Sachsenhausen tätig. Noch Anfang März 1945 glaubte Sonntag einem selbst verfassten Brief zufolge an den „Endsieg“19 . Wenig später wurde er in Kärnten von den Briten festgenommen und inhaftiert. Im Sommer 1945 erfolgte seine Verlegung nach Graz: Hier durfte er als Zahnarzt Mitgefangene betreuen und genoss alsbald Sonderrechte. So musste er nicht im Lager übernachten, sondern durfte in einem Vorort von Graz in einer Villa wohnen und für die zahnärztliche Versorgung der in den Außenlagern untergebrachten Mitgefangenen einen Dienstwagen nutzen. Doch diese Sonderbehandlung währte nur kurz: Im April 1947 wurde Sonntag nach Minden verbracht, wo er in Einzelhaft kam, und im Juli 1947 erfolgte seine Verlegung ins Kriegsgefangenenlager Hamburg-Fischbeck.20
Sonntag wurde im „Vierten21 Ravensbrück-Prozess“, der unter britischer Gerichtsbarkeit stand, wegen Misshandlungen, Folter und Ermordung weiblicher Häftlinge mit britischer beziehungsweise alliierter Staatsangehörigkeit angeklagt. Besagter Prozess dauerte von Anfang Mai bis Anfang Juni 1948. Bei allen Angeklagten handelte es sich um Vertreter des ehemaligen medizinischen Personals des KZ Ravensbrück. Sonntags Menschenversuche in Sachsenhausen waren nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens. Doch die erhobenen Anklagepunkte – die Misshandlung von KZ-Insassen, die Applikation tödlicher „Einspritzungen“ und die todbringende Selektion an der Rampe in Ravensbrück – waren ohnehin gravierend. Gerade der Vorwurf der Selektion erhärtete sich zudem im Verlauf des Verfahrens. Sonntag reagierte auf die betreffende Anklage mit der eigenwilligen Behauptung, „es seien nur ‚Reichsdeutsche‘ zur Ermordung selektiert worden. Damit sei das alliierte Gericht für ihn nicht zuständig.“22
Wie ernst Sonntag die Anklage einschätzte, zeigen seine Versuche, Entlastungszeugen zu akquirieren. Dabei gelang es ihm, „ein regelrechtes Netzwerk von Personen aufzubauen, die ihn dabei unterstützten, seine Vergangenheit umzudeuten“, und für ihn eintraten, darunter der Justizminister des Saargebiets und eine Reihe kirchlicher Würdenträger wie Kardinal Josef Frings.23 Sonntags Strategie war ebenso einfach wie unmissverständlich: Er wies im Prozessverlauf konsequent jede Schuld von sich.
Im September 1948 wurde er in Hameln erhängt
Doch seine Versuche liefen ins Leere: Am 4. Juni 1948 wurde er in Hamburg zum Tod durch den Strang verurteilt. Noch am Tag der Urteilsverkündung wurde er aus dem Gefängnis Altona ins Zuchthaus in Fuhlsbüttel verlegt. Im Juli 1948 wurde das Urteil bestätigt. Drei Tage nach der Bestätigung des Verdikts formulierte Sonntag ein Gnadengesuch, in dem er eidesstattlich erklärte, dass er „niemals einem Häftling bewußt einen Schaden zugefügt“24 habe. Nur acht Wochen später – am 15. September – wurde er in das Zuchthaus Hameln, die Hinrichtungsstätte der britischen Besatzungszone, überstellt. Dort wurde der Schuldspruch – Tod durch Erhängen – am 17. September 1948 vollstreckt.25
Sonntag war damit einer von insgesamt zwei Zahnärzten, die nach 1945 vor einem britischen Gericht zum Tode verurteilt wurden. Auffällig ist, dass Großbritannien damit von allen alliierten Gerichtsbarkeiten die wenigsten Todesstrafen aussprach26 : Allein sechs der 15 gegen Zahnärzte verhängten Todesurteile gingen auf französische Gerichte zurück, jeweils drei auf US-amerikanische und sowjetische Instanzen und eine auf das Militärgericht Belgrad.
Dass Sonntag mit der Höchststrafe belegt wurde, lag zum einen an der Schwere der Anklage und der klaren Beweislage, aber auch an der Tatsache, dass der Prozess bereits 1948 und damit vergleichsweise früh geführt wurde. Tatsächlich hatte der Zeitpunkt des Urteils einen entscheidenden Einfluss auf die Strafe: So lässt sich nachweisen, dass die Schuldsprüche in den nachfolgenden Jahren zunehmend milder ausfielen. Wenngleich die letzten Prozesse gegen Zahnärzte erst Ende der 1960er-Jahre geführt wurden, sind für die Zeit nach 1948 kaum noch Todesstrafen festzustellen.27 Ohnehin wurde in der Bundesrepublik die Todesstrafe 1949 abgeschafft. Ein Beispiel für die beschriebene Tendenz zu milden Urteilen bietet der unlängst in dieser Reihe besprochene Zahnarzt Helmut Kunz: Er wurde in der Bundesrepublik erst 1957 wegen der Verstrickung in die Ermordung der Goebbels-Kinder juristisch belangt. Das Verfahren wurde jedoch nur wenige Wochen nach Eröffnung der Hauptverhandlung vom Landgericht Münster ausgesetzt.28
Sonntag gehörte dementsprechend zu den letzten Todeskandidaten unter den Zahnärzten. Trotz seiner nachweislichen Brutalität und seines dramatischen Lebensendes ist seine Biografie bis heute weniger bekannt als diejenige anderer zahnärztlicher Kriegsverbrecher wie etwa Kunz oder Hermann Pook.29 Dennoch liefert gerade Sonntag ein Paradebeispiel für die weithin fehlende Selbstkritik der Angeklagten: Bis zum Schluss betrachtete er sich als Opfer einer Verleumdungskampagne – und projizierte seine Schuld auf die britischen Besatzungsbehörden, die er in einem Brief an seine Frau Gerda vom 8. Juni 1948 auch für das Elend der Nachkriegszeit verantwortlich machte: „Da reißen die Burschen das Maul auf u. suchen Verbrecher gegen die Menschlichkeit u. auf der anderen Seite lassen sie tausende von unschuldigen Frauen u. Kindern zu Grunde gehen! Man hat keine Worte.“30
Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen
Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MTI 2,
Wendlingweg 2, 52074 Aachen
dgross@ukaachen.de
1 Die vorliegenden Ausführungen fußen wesentlich auf Stoll (2002), Klee (2003), 290–293, und Rinnen/Westemeier/Gross (2020);
2 Sonntag, 1933;
3 Groß, 2019, 38;
4 DZB, 1938, Teil C, 263; DZB, 1941, Teil C, 254;
5 Schwanke/Krischel/Groß, 2016; Groß, 2018; Groß/Westemeier/Schmidt/Halling/Krischel, 2018;
6 Stoll, 2002, 921f.; Klee, 2013, 588;
7 Westemeier/Groß/Schmidt, 2018;
8 Rinnen/Westemeier/Groß, 2020; Vgl. auch Stoll, 2002, 926;
9 Stoll, 2002, 923;
10 Ebenda
11 Klee, 2013, 588;
12 Klee,2003, 292;
13 Schäfer, 2002, 146; Groß, 2018, 171;
14 Stoll, 2002, 926–928; Klee, 2003, 293;
15 Schäfer, 2002, 145;
16 Schäfer, 2002, 145f.; Stoll, 2002, 929;
17 Stoll, 2002, 929;
18 Sonntag, 1943, insb. 34;
19 Stoll, 2002, 931;
20 Ebenda;
21 Stoll schreibt hierbei irrtümlich vom siebten Ravensbrück-Prozess: dies., 2002, 932;
22 Klee, 2003, 292
23 Stoll, 2002, 932f.;
24 Klee, 2003, 291;
25 Schäfer (2002), 144f.;
26 Rinnen/Westemeier/Gross, 2020;
27 Rinnen/Westemeier/Gross, 2020;
28 Groß, 2020; Heit/Westemeier/Groß/Schmidt, 2019;
29 Schmidt/Groß/Westemeier, 2018; Groß/Krischel, 2020; Groß, 2020;
30 Stoll, 2002, 937