Daylight for all

„Im Syrienkrieg galt mein hippokratischer Eid als unethisch“

Seit einem Jahrzehnt zerstört der Bürgerkrieg in Syrien das Land und macht Millionen Menschen zu Geflüchteten. Offiziell gelangten 3,6 Millionen von ihnen in die Türkei. Werden sie krank, halten Bürokratie, Sprachbarrieren und nicht zuletzt die hohen Kosten viele von einer medizinischen Untersuchung und Behandlung ab. Seit 2020 versuchen wir mit unserer auf diese Patienten spezialisierten Praxis dort anzusetzen und zu helfen.

Der grausame Syrienkonflikt, der im März 2011 begann, scheint kein Ende zu nehmen. Millionen sind ins Ausland geflüchtet. Gemäß den offiziellen Zahlen der Vereinten Nationen hat allein die Türkei 3,6 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge aufgenommen. Obwohl sich in den vergangenen Jahren die medizinische Versorgung dort weiterentwickelt hat, ist sie hinsichtlich der notleidenden Geflüchteten nicht zufriedenstellend. Insbesondere im Bereich Zahnmedizin sehen wir großen Handlungsbedarf, da zahnärztliche Versorgungen im Unterschied zu anderen medizinischen Versorgungen von den Geflüchteten selbst getragen werden müssen. Das ist eine schwerwiegende Hemmschwelle für oft dringend notwenige Behandlungen.

Diesen Missstand habe ich selbst beobachtet. Noch zwei Jahre nach Beginn des Konflikts hatte ich meine eigene Zahnarztpraxis in Aleppo. Doch aufgrund des Krieges, in dessen Verlauf mir mein hippokratischer Eid nicht als tugendhafte Ethik, sondern seitens der verschiedenen bewaffneten Akteure als „unethische“ und „illegitime“ Unterstützung der jeweils anderen Seite ausgelegt wurde, musste ich diese schließen. Ich flüchtete dann selbst in die Türkei und begann 2013 in einer Ankaraner Gemeinschaftspraxis zu arbeiten. Dort bemerkte ich bald die Benachteiligung der Geflüchteten bei der Inanspruchnahme zahnmedizinischer Dienstleistungen. Da das Geld für eine entsprechend der Diagnose angemessene Behandlung oft nicht ausreichte, wurde nicht selten eine unkompliziertere und günstigere, jedoch häufig zum Nachteil des Patienten ausgerichtete Behandlung durchgeführt. So entschieden sich Kollegen eher für eine Extraktion als für eine kostspieligere, jedoch zahnerhaltende Wurzelbehandlung. 

Die erste Praxis für Geflüchtete in Ankara

Als ich 2014 nach Deutschland kam und hier meine Approbation erlangte, verfolgte ich die weiterhin steigende Zahl der Kriegsflüchtlinge in der Türkei. Mittlerweile leben allein in Ankara knapp 100.000 syrische Geflüchtete. Also entschied ich, nun doch vor Ort aktiv zu werden, und erhielt – nach einer bürokratischen Odyssee – im Januar 2020 die offizielle Genehmigung für die erste anerkannte, auf Geflüchtete ausgerichtete Zahnarztpraxis in Ankara. Unser Antrieb: Krankheit und Schmerzen sollten nicht mehr Teil der ohnehin erschwerten Lebensbedingungen der Menschen sein.

Hier setzt die von uns in Leben gerufene Organisation an: Die „Daylight for all gUG“ habe ich gemeinsam mit meinem Bruder Iyad, der als Augenarzt praktiziert, ins Leben gerufen. Denn wir sehen uns verpflichtet, die Lebenssituation von bedürftigen Menschen in den Aufnahmeländern, insbesondere im Bereich der medizinischen Grundversorgung, zu verbessern. Unser Versorgungsangebot hat dadurch einen offiziellen Rahmen bekommen. Unser Team besteht aus vier Zahnärztinnen und Zahnärzten, einem Chirurgen, der nach Bedarf eingesetzt wird, und sechs Arzthelferinnen. Die Praxis führt Notfall- und Schmerzbehandlungen, konservative und restaurative Behandlungen durch. Das Spektrum reicht bis in die Kieferorthopädie, Chirurgie und Implantologie hinein. Die von uns eingesetzten Geräte umfassen zwei Behandlungseinheiten, ein Periapical-Röntgengerät sowie das dazugehörige Zubehör.

Spenden Sie für die Organisation in der Türkei

Kontoinhaber: Daylight for all gUG

Bank für Sozialwirtschaft

IBAN: DE05 3702 0500 0001 7797 01

BIC: BFSWDE33XXX

Weitere Infos: www.daylight-for-all.de

Seit Beginn unseres Projekts ist die Zahl der Patienten immer weiter gestiegen. Auch aus anderen Städten kamen viele angereist, um sich von uns behandeln zu lassen. Schnell waren unsere Kapazitäten ausgeschöpft, so dass wir Patienten zurückweisen und auf Termine um Wochen bis Monate später vertrösten mussten. Die niedrigen Preise für die in Anspruch genommenen zahnmedizinischen Behandlungen ziehen natürlich besonders die bedürftigen Patienten an. Hier einige Beispiele für die Behandlungskosten in Türkische Lira (TL): Der übliche Preis für eine Amalgamfüllung liegt bei 580 TL. Wir veranschlagen für unsere sozial und wirtschaftlich belasteten Patienten 125 TL. Eine Kunststofffüllung kostet normalerweise 620 TL, hier 150 TL. Eine Irrigation für eine Sitzung liegt eigentlich bei 165 TL, wir nehmen 25 TL. Und eine provisorische Krone aus Kunststoff würde 255 TL kosten, hier verlangen wir 25 TL. Der Wechselkurs zum Euro verhält sich momentan so: 1 Türkische Lira entspricht 0,064 Euro (Mitte Januar 2022). Für die reduzierten Preise können wir uns die in der Türkei nicht vorhandene Gebührenordnung für eine Mindestgebühr zunutze machen. Dort gibt es nur Preisempfehlungen der Zahnärztekammer.

Wir gelangen oft an die Grenzen unserer Aufnahmekapazitäten von Notfallpatienten. Diese noch zwischen den Terminpatienten zu behandeln, verlangt von allen Praxismitarbeitern viel ab. Doch die Kommunikation der Ärzte und Arzthelferinnen mit den Patienten läuft gut, denn fast alle sprechen arabisch. Das hohe Arbeitspensum unseres Teams zerrt enorm an den Kräften. Ein türkischer Zahnarzt behandelt täglich etwa zwischen 15 bis 20 Patienten, bei uns kann diese Zahl schnell bis auf 30 bis 35 Patienten täglich steigen.

Eine von vielen Schicksalsgeschichten sei an dieser Stelle erzählt: Eines Tages kam eine Frau in die Arztpraxis. Sie hatte weder einen Termin noch Geld dabei und brach direkt in Tränen aus. Sie sagte, dass sie drei Kinder habe und alle an Karies litten und eine Behandlung nötig sei. Sie und ihr Mann benötigten außerdem eine Wurzelbehandlung, doch hätten sie kein Geld dafür. Ihr Mann laufe, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können, jeden Tag kilometerweit zur Arbeit. Sein Gehalt liege weit unterhalb des durchschnittlichen Einkommens von 3.500 TL. Für den Umzug in eine andere Stadt, wo man ihm einen besser bezahlten Job angeboten hätte, habe er aber etwas beiseitegelegt. Und er sei bereit, davon die Behandlung zu bezahlen. In dem Gespräch wurde mir der Druck der Familie klar und ich konnte das Geld nicht annehmen. So behandelte ich die Familie kostenlos.

Unsere Mission ist, dass wir jedem bedürftigen Menschen helfen wollen, solange wir dies bewerkstelligen können. Wir wollen dazu beitragen, dass die zahnmedizinische Grundversorgung als elementares Grundbedürfnis ein Stück weit wiederhergestellt werden kann. Einige Patienten haben uns gefragt, ob wir nicht weitere Praxen in anderen Städten eröffnen können. Derartige Wünsche bestätigen uns in unserer Arbeit. Doch die Umsetzung ist abhängig von Unterstützung und Spenden. Ziel bleibt zurzeit die akut notwendige Vergrößerung der aktuellen Zahnarztpraxis. 

Dr. Hassan Durmush

Praxis für Geflüchtete in Ankara undFreiberufler/Honorararzt in Essen

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