Unbequeme Lobby
„Ulla Schmidt kann auch anders“, stellte die Berliner Zeitung in ihrer Ausgabe vom 5. November fest: „Gerade hat die Gesundheitsministerin nach einer Pressekonferenz noch mit Journalisten geplaudert .... fixiert sie einen Mann, der weiter hinten im Foyer steht. Schnurstracks marschiert sie auf ihn zu, bringt sich in Position und sagt: ,Von Ihnen lasse ich mir meine Politik nicht kaputtmachen, von Ihnen nicht, Sie Saboteur!’ Der Mann ist Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigung, blickt sie irritiert an und will antworten, aber Schmidt lässt ihn nicht zu Wort kommen: ,Ich muss jetzt weg.’“
Dieser inszenierte Auftritt der in der letzten Legislaturperiode als gesundheitspolitische „Beruhigungspille“ apostrophierten Ulla Schmidt ist seit der Wiederwahl von Rot-Grün Programm einer Gesundheitsministerin, die Mühe hat, ihre Bewegungsarmut im angegriffenen Gesundheitssystem zu kaschieren. Der „Kampf mit den Lobbyisten“, das Abqualifizieren des Aufgabenbereichs der vom Staat selbst eingesetzten und beaufsichtigten Körperschaften öffentlichen Rechts als „Geschrei“ oder „Schüren von Horrorvisionen und Ängsten“ soll von einer sachlichen Auseinandersetzung in der allgemeinen Öffentlichkeit über die Problematik und mögliche Auswege aus der Misere ablenken. Wo selbst das nicht mehr fruchtet, wird mit Abschaffung dieser Institutionen gedroht. Ein taktisches Spiel mit der öffentlichen Meinung, das in seiner Rezeptur immer dann einsetzt, wenn argumentative Auseinandersetzung machtpolitisch gefährlich wird.
„Lobbyismus“ – ein Begriff, der auf die Gepflogenheit von Abgeordneten des britischen Unterhauses rekrutiert, sich in der Vorhalle („Lobby“) des Parlaments mit Interessensgruppen der Gesellschaft auszutauschen, avanciert in politisch prekären Zeiten immer wieder zum Schimpfwort. Genau zu den Zeitpunkten, wenn die politisch Verantwortlichen dieses Staates auf Grund immanenter Unzulänglichkeiten des Solidarsystems an die Grenzen des Machbaren stoßen, der Bevölkerung unbequeme Wahrheiten benennen und neue Wege finden müssten.
Dieses Vorgehen ist keineswegs neu, wurde in der Geschichte unseres Sozialstaates erstmals Mitte der siebziger Jahre eklatant genutzt und seitdem durch halbherzige, in immer kürzeren Abständen vollzogenen Schritten einer Politik der Kostendämpfung zu Lasten der Bevölkerung beantwortet. Diese Taktik wird immer im Doppelpack mit offensiven Angriffen gegen die Selbstverwaltung des Systems eingesetzt.
Dabei leisten Institutionen wie die Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigungen und deren Bundesorganisationen, deren Aufgaben im vom Gesetzgeber gestalteten Sozialgesetzbuch V eindeutig definiert sind, seit ihrer Neugründung in den fünfziger Jahren eine wichtige Aufgabe in der (zahn-)medizinischen Versorgung Deutschlands. Sie „haben die vertragsärztliche Versorgung .... sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, dass die vertragsärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht“. (§ 75 Sozialgesetzbuch V). Aber sie haben auch „die Rechte der Vertragsärzte gegenüber den Krankenkassen wahrzunehmen, .... die Erfüllung der den Vertragsärzten obliegenden Pflichten zu überwachen und die Vertragsärzte, soweit notwendig, unter Anwendung der .... vorgesehenen Maßnahmen zur Erfüllung dieser Pflichten anzuhalten.“ Ein explizit formulierter Auftrag, der von keinem anderen stammt, als vom genau diese Institutionen anfeindenden Gesetzgeber.
Und: „Die Aufsicht über die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen führt der Bundesminister für Gesundheit, die Aufsicht über die Kassenärztlichen Vereinigungen führen die für die Sozialversicherungen zuständigen obersten Verwaltungsbehörden der Länder.“ Soviel zum demokratisch motivierten Unterbau einer Systematik, für die übrigens keine der als vertrags(zahn-)ärztlichen Antipoden agierenden Kräfte – weder der Gesetzgeber noch die Krankenkassen – die Verantwortung selbst übernehmen will. Angebote der Selbstverwaltungen, den Sicherstellungsauftrag den Krankenkassen zu übertragen, werden in der öffentlichen Auseinandersetzung wohlweislich ignoriert.
Und der Bürger? Er hat, wie eine im April dieses Jahres durchgeführte Repräsentativstudie zum Thema „Lobbyismus“ (Güttler und Klewes) aufzeigt, längst eine andere Einstellung als die von ihm gewählte Regierung: „... Fach- und Branchenverbände gelten in den Augen der Bürger als wichtigste Impulsgeber und Berater für die Politik. So können sich bei einer Einflussnahme auf Entscheidungen im Gesundheitswesen die Interessenverbände der Ärzte und Apotheker einer Billigung durch 81 Prozent sicher sein.“ Was der Bürger allerdings will, ist Transparenz: „78 Prozent der Befragten ... stimmen einer Beratung der Politiker durch Unternehmen und Verbände zu, sofern dies nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschieht.“
Die Bevölkerung setzt längst auf Fachberatung für Politiker und hat keine Angst vor der Lobby. Die Politik hingegen ist offensichtlich noch nicht so weit.