Brutto statt netto
Walter Kannengießer
Sozialpolitik-Journalist
Neuerdings wird das Rentenniveau als Prozentsatz vom Brutto-Einkommen der Arbeitnehmer definiert. Bislang war das Netto-Einkommen der Maßstab. Riester wollte das Netto-Rentenniveau von 70 auf 67 Prozent abschmelzen. Die Rürup-Kommission schlägt nun vor, bis 2030 das Brutto-Rentenniveau von 48 auf 40 Prozent zu senken. Der Wechsel von netto zu brutto mag zu begründen sein. Doch für die Rentner ist entscheidend, was von den Alterseinkommen netto verfügbar bleibt.
Auch die Rentner müssen einen fühlbaren Konsolidierungsbeitrag leisten. Anders geht es nicht. Doch dabei sind Grundsätze zu beachten: Die durch eigene Vorleistungen erworbene Position im Rentensystem darf weder direkt noch indirekt infrage gestellt werden. Den Verfassungsprinzipien der Verhältnismäßigkeit der Eingriffe und des Vertrauensschutzes ist Rechnung zu tragen. Da an den bestehenden Systemen festgehalten werden soll, müssen Neuregelungen auch dem System entsprechen. Sonst regierte Willkür.
Um den Beitrag stabil zu halten und die Kürzung des Bundeszuschusses auszugleichen, wird daran gedacht, den hälftigen Beitragszuschuss der Rentenversicherung (RV) zur Krankenversicherung (KV) um x-Prozent und später ganz zu streichen, was nur durch entsprechende Erhöhungen des Rentner-Beitrags auszugleichen wäre. Das wäre die Neuauflage des „Verschiebebahnhofs“: Eichel kassierte, weder RV noch KV hätten mehr, die Rentner müssten zahlen. In der Brutto-Rechnung änderte sich nichts, netto hätten die Rentner weniger.
Wer neben der gesetzlichen Rente andere Versorgungsbezüge (Betriebsrenten) bezieht, soll künftig dafür nicht mehr den halben, sondern den vollen Beitrag zahlen. So lange der Lohn des Arbeitnehmers in der KV mit dem halben Beitragssatz belastet wird, ist es systemgerecht, auch die Lohnersatzleistungmit dem halben Beitragssatz zu belasten. Die Neuregelung kann indirekt zu fühlbaren Rentenkürzungen führen. Wer zusätzliche Versorgungsbezüge von 200 Euro hat, wird monatlich etwa 14 Euro mehr zahlen, bei einer Betriebsrente von 1 500 Euro sind das jedoch schon mehr als 110 Euro im Monat. Das berührte den Vertrauensschutz. Auch steht zur Diskussion, Rentner generell mit einem zusätzlichen KV-Beitrag zu belegen.Auch das wachsende Defizit in derRentner-KV rechtfertigte einen solchenSchritt nicht; er wäre systemwidrig. In der KV gilt ein solidarischer Beitrag: Junge zahlen für Alte, Gesunde für Kranke, Gutverdiener für Sozialschwache. In das System der lohnbezogenen Beiträge passt kein risikobezogener Zuschlag. Wer von den Alten Risikobeiträge will, muss sich vom Solidarsystem verabschieden. Beides kann man nicht haben, zumal zu berücksichtigen wäre, dass viele Rentner über Jahrzehnte hinweg Höchstbeiträge entrichtet haben. Sie fühlen sich jetzt geprellt. Auch die für 2005 geplante Reform der Rentenbesteuerung trifft vor allem jene, die früher für höhere Alterseinkommen gearbeitet und gespart haben. Bei einer Rente von 2 000 Euro kann die Steuerbelastung um mehr als 100 Euro monatlich steigen. In der Pflegeversicherung sollen Rentner höhere Beiträge für niedrigere Leistungen zahlen.
In der Kumulation können sich für Rentner mit Brutto-Bezügen an der KV-Bemessungsgrenze (2003 = 3 450 Euro) monatliche Mehrbelastungen gegenüber dem geltenden Recht von 400 Euro und mehr ergeben. Bei der Brutto-Rente zählt das nicht. Doch die verfügbaren Alterseinkommenvieler Rentner werden dauerhaft und weit stärker beschnitten, als dies heute weithin dargestellt wird. Die Politik setzt auf die Salami-Taktik: Den Rentner werden die Einkommen scheibchenweise beschnitten, wohl in der Hoffnung, sie merkten es erst nach und nach.
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