Ein starkes Stück\r
Ulla Schmidt steht unter Druck: Die Zeit rennt, ihre Glaubwürdigkeit sinkt. Anfangs wurde sie nicht müde, den Versicherten das Mantra vorzubeten, „die elektronische Gesundheitskarte kommt flächendeckend Anfang 2006“. Inzwischen rückt auch sie davon ab: Nur den Start der Feldversuche wolle sie zum Januar garantieren. Wie sie allein dieses Versprechen halten will, ist den Telematikexperten in der gematik schleierhaft. Das Tempo sei schlichtweg irrwitzig. Das „gigantischste IT-Projekt der Welt“ (Zitat Ulla Schmidt) erfordere einen vergleichbaren Zeitplan – zu groß sei sonst das Missbrauchspotenzial, zu riskant ein Fehlstart made in Österreich.
Super-Gau in Österreich
Dort ist nämlich genau das passiert, was nach Meinung der IT-Industrie eigentlich gar nicht passieren kann: Das komplette System stürzte ab, weil der erste Server keinen Strom und der zweite ausgerechnet an dem Tag ein Problem mit der Datenbank hatte. Der Super- Gau legte die Praxen lahm. Behandlungen – im Klartext die Patienten – blieben auf der Strecke. Um ein derartiges Desaster zu verhindern, setzen unsere Leistungs- und Kostenträger auf fundierte Konzepte statt auf Schnellschüsse im Hopplahopp-Verfahren. Schmidt sieht das freilich anders: Die Karte müsse einfach rasch nach vorn gebracht werden. „Umso mehr bedaure ich, dass die Selbstverwaltung zurzeit die erforderlichen Beschlüsse nicht fassen kann, weil ihre Mitglieder sich gegenseitig blockieren.“ Ein Vorwand, vermuten Insider. In Wahrheit sehe die Ministerin ihren Vorzeigeerfolg in Gefahr und wolle deshalb das Zepter selbst in die Hand nehmen. Tatsächlich schaltete das BMGS die gematik per Rechtsverordnung aus und setzte sich selbst an deren Stelle. Bis zum Ende der Feldtests sind der gematik somit die Hände gebunden. Kassen, Ärzte und Apotheker müssen die Arbeiten zwar weiter finanzieren und dem BMGS zuarbeiten – Einfluss auf die Inhalte haben sie indes nicht mehr. Sind die Tests gelaufen, dürfen sie sich dafür mit den Niederungen der praktischen Umsetzung vor Ort beschäftigen.
„Das ist ein starkes Stück. Eine von allen Seiten akzeptierte Realisierung dieses ehrgeizigen Projekts kann man nicht durch Eingriffe und Weisungen von oben erzwingen“, hält KZBV-Vizechef Dr. Günther E. Buchholz dagegen. Auch wenn es zuweilen schwierig sei, einen Konsens zu finden, weil die verschiedenen Gruppen aus Ärzten, Kassen, Krankenhäusern und Apothekern naturgemäß verschiedene Positionen vertreten – die Selbstverwaltung befinde sich auf dem richtigen Weg, das heißt, Richtung Datenschutz und Sicherheit. „Und der beinhaltet eben auch – wie das BMGS übrigens selbst forderte – dass wir die in der gematik erzielten Ergebnisse kritisch auf Fehler prüfen.“ Das sieht Jürgen Herbert, Präsident der Kammer Brandenburg und Telematikexperte der BZÄK, ganz genauso: „Eigentlich müsste die Politik aus dem Tollcollect-Debakel gelernt haben. Insbesondere müsste sie begriffen haben, dass erhöhter Druck die IT-Systeme nicht schneller reifen lässt!“
Doch Schmidt setzt sogar noch eins drauf: Jetzt sollte die gematik sogar binnen einer Woche die inhaltlichen Ergebnisse für das IT-Projekt vorlegen. „Völlig abstrus“, so Buchholz. In einer Sache hatte das BMGS bereits Einsehen und ruderte zurück: Mit der Einmischung in Personalfragen der gematik ist man dort wohl rechtlich übers Ziel hinaus geschossen.
Dabei geht es der gematik und insbesondere den Leistungsträgern keinesfalls darum, den Start der Karte zu blockieren – im Gegenteil. Die eGK wird von allen Beteiligten zumindest in Teilen als sinnvoll angesehen. Aber wenn das Gigaprojekt reibungslos an den Start gehen soll, ist eine sorgfältige Vorbereitung das A und O.
„Ohne Frage macht die elektronische Gesundheitskarte in Teilen durchaus Sinn, zum Beispiel als Transportweg für das E-Rezept oder auch zur freiwilligen Speicherung der Notfalldaten“, bestätigt Buchholz. „Ebenso eignet sich die Karte, um zuverlässig den Zuzahlungsstatus zu überprüfen und Kartenmissbrauch zu verhindern.“ Der Nutzen anderer Teile bleibe für die Zahnärzte allerdings zweifelhaft, etwa die Elektronische Patientenakte. Sie verzeichnet, wie oft, wann und an was jemand in seinem Leben erkrankte und was man ihm daraufhin verschrieb. Was alles auf der Karte steht, entscheidet der Patient.
Was nun, wenn er die abendliche Schlaftablette vergisst oder die Antidepressiva unterschlägt? Eine Medikamentendokumentation mit Lücken ist für die Therapie – man denke an die geplante Wechselwirkungsprüfung – wertlos, wenn nicht gar gefährlich: Kann sich der Behandler doch auf diese Infos nicht verlassen. Eine Verbesserung der Patientenversorgung, wie von der Politik propagiert, ist damit schon gar nicht zu erreichen. Der Weg scheint daher vorgezeichnet: Auch wenn das BMGS heute die Freiwilligkeit der Datenspeicherung betont – um Erfolge zu verbuchen, werden die Anwendungen wohl im nächsten Schritt zur Pflicht.
Knackpunkt Datenschutz
Weiterhin ungeklärt ist eine der wichtigsten Fragen: Wo werden die Daten gespeichert? Die Kassen wollen sie zentral auf die Server packen. Das wollen Ärzte und Zahnärzte im Sinne des Patienten jedoch unbedingt verhindern: Der Patient muss Herr seiner Daten bleiben. Und allein bestimmen, wer Einblick in seine Krankengeschichte erhält.
Das kann für die Leistungsträger nur heißen: dezentrale Datenhaltung und -speicherung, und zwar wo machbar direkt auf der Karte. Wo aufgrund begrenzter Speicherplätze diese Lösung ausgeschlossen ist, sollten die Daten am besten in den Praxen gehalten werden. Wo auch das nicht möglich ist, bei den KVen, KZVen und Kliniken – eben möglichst dezentral – gespeichert werden, auf jeden Fall in der Hoheit der Leistungsträger liegen.
Nur dann ist auch künftig garantiert, dass der Patient allein über seine Daten herrscht, und nur dann bleibt das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient geschützt. Zentrale Datensammlungen wecken hingegen Begehrlichkeiten und geraten leicht in falsche Hände.
Hohe Kosten, unklarer Nutzen
Klar ist, dass Gesetzgeber und Kassen mit Einführung der Karte die Strukturen im Gesundheitswesen und die Datenflüsse generell verändern wollen. Das will die KZBV vermeiden. Sie setzt sich dafür ein, die moderne Datenverarbeitung auf Grundlage der vorhandenen Strukturen zu integrieren. Denn für den Arzt mag der elektronische Datenflow ja sinnvoll sein – für den Zahnarzt tendiert der Nutzen gegen Null. Im Unterschied zum Mediziner stellt er Ein-, Überweisungen und Rezepte nur selten bis gar nicht aus. Aus dem Grund stimmt die KZBV dafür, dass die Zahnärzte ihre Daten im Prinzip halten wie bisher und Rezepte wie Überweisungen weiter auf Papier ausstellen. können. Geht es nach ihr, bleiben die Zahnärzte auch bei den Feldtests außen vor.
Aufrüsten muss der Zahnarzt seine Praxis trotzdem. Je nachdem, wie gut er bereits ausgestattet ist, kommen mehr oder weniger große Investitionen auf ihn zu.
Entspricht die EDV nicht einem bestimmten Standard, gilt es vorab, in sie zu investieren. Neben DSL-Anschluss, Hard-, Software und Konnektoren muss er seine Praxis online-fähig machen und alles ans Laufen bringen. Die Investitionskosten erhält er über „transaktionsbasierte Zuschläge“ zurück, das heißt, pro Online-Abgleich zahlen die Kassen einen Zuschlag.
Wie viel jede Praxis insgesamt bekommt, wird zurzeit in einer unabhängigen Kosten- Nutzen-Analyse ausgerechnet. Buchholz: „Die KZBV begleitet die Kosten-Nutzen- Analyse aktiv, denn dass der Zahnarzt keinerlei Nutzen durch die Gesundheitskarte und ihre Anwendungen hat, muss sich auch in dem Ergebnis widerspiegeln.“
Zusätzlich zur Grundausstattung braucht der Zahnarzt den elektronischen Heilberufsausweis, das Pendant zur eGK. Hier hat das Projekt „Zahnärzte online Deutschland“ (ZOD) bereits ein sicheres online- Kommunikationssystem auf Basis der Chipkarten entwickelt und damit nicht nur die BZÄK, sondern auch die Bundesärztekammer überzeugt. Ein großer Erfolg: Für den Arztausweis wird das marktoffene ZODModell übernommen.
Nüchterne Bilanz
Gut 1,4 bis zwei Milliarden Euro wird die Einführung der eGK summa summarum kosten. Ob das neue System zu den erwarteten Einsparungen führt, ist freilich dahingestellt. KZBV und BZÄK sehen die Entwicklung alles in allem bekanntermaßen kritisch. Nichtsdestotrotz bringen sie sich weiter ein, um die Gefahren in punkto Datenschutz publik zu machen und den Aufwand für den niedergelassenen Zahnarzt gering zu halten.
Wer nämlich glaubt, das Problem bestehe darin, Chipkarten herzustellen und zu verteilen, irrt. Wie man die Infrastruktur in den Praxen ans Laufen bringt, das ist die große Frage.