Bewegte Bazillen
Die Vogelgrippe wütet – fast jeden Tag stehen neue Fälle in der Zeitung. Inzwischen hat das gefährliche Virus die EU erreicht und fällt nach Italien und Griechenland jetzt auch über Österreich und Deutschland her. Bislang fand man bei uns nur infizierte Schwäne – aufatmen wird trotzdem niemand, denn die Krankheit überträgt sich auch von Tier zu Mensch. In Brüssel tauchte bereits Mitte Januar ein Verdachtsfall auf, kurz darauf in Köln, dann in Montpellier. Zwar gaben die Behörden jedesmal Entwarnung, dennoch versetzte die Meldung die Bevölkerung in Angst und Schrecken.
Denn liegt Köln auch Hunderte von Kilometern von China, Zypern und selbst Italien entfernt – die scheinbar grundlose Panik hat durchaus Berechtigung. Epidemien reisen mit uns um die Welt.
Blinde Passagiere
Verbreiteten sich Erreger früher quasi „zu Fuß“, bewegen sie sich heute im Zeitraffer. Während historische Seuchen wie die Pest noch langsam und wellenartig vorwärts krochen, jagen die Keime heute blitzschnell um den Globus. Ganze drei Jahre brauchte die Pest im 14. Jahrhundert, um Europa von Nord nach Süd zu durchqueren – die Lungenkrankheit Sars wurde dagegen binnen weniger Wochen gleich auf mehreren Kontinenten festgestellt. Die Erklärung dafür ist simpel: Wir sind mobil. In Zeiten ohne Auto, Flugzeug und Bahn legten Reisende maximal 20 Kilometer pro Tag zurück. Jetzt reisen Geschäftsleute und Urlauber um die halbe Welt. Heute Japan, morgen Düsseldorf. Dank neuer Verkehrsnetze nimmt man morgens den Flieger zum Geschäftstermin und reist abends retour.
Doch Businessleute und Touristen haben nicht nur Anzüge oder Sonnencreme dabei. Nein, auch die Viren sind mobil geworden: Versteckt im Gepäck gehen sie als blinde Passagiere mit an Bord. Via Flugzeug oder Zug verbreiten sie sich rasant, besonders an Knotenpunkten, wie Flughäfen oder Fernbahnhöfen. Kreuz und quer. Landauf, landab.
Unser reges Reiseverhalten ist allerdings alles andere als chaotisch. Im Gegenteil: Richtige mathematische Gesetze liegen den Trips zugrunde. Und genauso wie sich diese Reisewege berechnen lassen, sind auch die Ausbreitungsmuster der Seuchen vorhersehbar. Diesen Zusammenhang erkannte Dirk Brockmann, Physiker am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation.
Den Viren auf der Spur
Auf die Idee, dass System dahinter steckt, kam der Physiker dank eines profanen Spiels, dem so genannten Dollar-Tracking. US-Bürger melden über die Website wheresgeorge.com den Ort, an dem sich gerade einer der 70 Millionen registrierten Dollarscheine in ihrem Besitz befindet. Von Reisenden verbreitet und weitergegeben wandern die Dollars durch die Staaten. „Genau wie die Viren“, stellte Brockmann fest. Geldbewegungen und damit das moderne Reiseverhalten gehorchen universellen Skalierungsgesetzen: Das Reisemuster über kleine Entfernungen gleicht dem über große Strecken. Brockmann: „So wie es zum Beispiel ein Gesetz gibt, dass es sehr viele kleine Tiere von einigen Zentimetern Größe gibt, aber vergleichsweise wenige, die viele Meter groß werden, so lassen sich auch im Reiseverhalten regelmäßige Abhängigkeiten feststellen: zwischen der Länge zurückgelegter Strecken und deren Häufigkeit.“
Das heißt, kommt man den Reisebewegungen der Geldscheine auf die Spur, könnte man also auch Aussagen über mögliche Ausbreitungswege von Seuchen treffen.
Dass Seuchen außer Kontrolle geraten, liegt nämlich speziell am mangelnden Wissen über Prognosen: Verfärbten sich Landkarten, die die fortschreitende Infektion markieren, früher im Schneckentempo, flackert es heute hier und morgen ganz woanders farbig auf. Doch eine Systematik, mit der man die Virenwege kontrollieren kann, schien es nicht zu geben.
Tanz der Dollars
Erst Brockmann sah beim „Tanz der Dollars“, so das Fachmagazin „Nature“, im Chaos die Choreographie. Eine Computersoftware half ihm dabei. Es wertete die auf www.wheresgeorge.com erfassten Orte und Zeiten aus, wo fast 50 Millionen Dollar individuell registriert waren. Knapp 1,2 Millionen Meldungen las das Programm und lieferte die Zahlen, die offensichtlich typischen Regelmäßigkeiten unterworfen waren. Denen folgt der Weg von Geld und Grippe.
Lediglich 7,8 Prozent der Dollars legten in knapp einer Woche mehr als 800 Kilometer zurück, 11,3 Prozent kamen weiter als 50 Kilometer. Dagegen wurde die Mehrheit von 80,9 Prozent der Scheine keine 50 Kilometer weit getragen, die meisten blieben sogar an ein und demselben Ort. Die flach abfallende Kurve beruht auf einer mathematischen Formel: Die Weglänge ist umgekehrt proportional zur Häufigkeit der Reise. Das Geld wechselt also vielleicht häufig den Besitzer – kommt aber über das Ortsausgangsschild nicht hinaus.
Eine Erkenntnis mit Folgen: Wer in Zukunft den Verlauf einer Pandemie im Voraus bestimmen will, muss diese Grundsätze berücksichtigen. Brockmann will jetzt beweisen, dass auch in Europa die Viren der Mathematik gehorchen. Dazu müsste er prüfen, wie viel Zeit die Euromünzen in einzelnen Ländern brauchen, bis sie sich in Nachbarstaaten unter das dortige Geld mischen. Von wo nach wo Euros und Epidemien besonders schnell gelangen, entspricht den typischen Reiserouten: Denn auch die Topologie entscheidet über die Ausbreitungsmuster. Seuchen verbreiten sich in den USA vermutlich schneller auf den kurzen Nord-Süd-Wegen als über die langen Ost-West-Distanzen.
Die regionale Bevölkerungsdichte und die Attraktivität der Reiseziele sind ebenfalls relevant. So ist es viel wahrscheinlicher, dass bei uns ein Geldschein in der Großstadt landet, wo er vielfach den Besitzer wechselt, als auf dem platten Land. ck
Die Studie steht im Magazin Nature, Bd. 439, 2006, S.462: Dirk Brockmann, Tanz der Dollars, und in der aktuellen Ausgabe „SZ Magazin Wissen”.