Große Show, nichts dahinter
Wer im Netz die Seite www.die-gesundheitskarte. de anklickt, erfährt vom BMG, wie die eGK die Versorgung verbessern, die Rechte der Patienten stärken und die Ärzte untereinander besser vernetzen wird. Wo die besagte Wunderkarte zu finden ist, die seit 2006 eigentlich jeder in der Tasche haben sollte und die Ulla Schmidt als den „Schlüssel zu einer umfassenden Modernisierung unseres Gesundheitswesens“ preist – genau das erfährt der Leser nicht. Wie auch? Schließlich ist die eierlegende Wollmilchsau nach wie vor Science Fiction.
Verlassen wir also Schmidts Märchenstunde. Und begeben uns auf den Boden der Realität beziehungsweise in die Niederungen der Praxis. Fakt ist nämlich, dass selbst elementare Bausteine des Prestigeprojekts noch in den Kinderschuhen stecken. Während die Ministerin noch im April verkündete, „der Zeitplan steht“, gehen Insider mittlerweile davon aus, dass die eGK mit den versprochenen Anwendungen frühestens 2011 kommt. Frühestens.
Karte krankt an sich selbst
Flensburg. Unter anderem in dieser Stadt soll die Gesundheitskarte laufen lernen: Ausgewählte Ärzte testen dazu einen Prototypen der neuen Karte in ihrer Praxis. Im Moment läuft allerdings noch nicht allzuviel. Erinnern wir uns: Ziel der Karte war ursprünglich, Kosten zu sparen durch weniger Zeitaufwand. Endlich Schluss mit der Zettelwirtschaft und den handgeschriebenen Krankenakten.
Doch bis heute kann man die Karte nur in das Kartenlesegerät stecken, um die Notfall- und Krankenversichertendaten auszulesen, sowie E-Rezepte zu erstellen. Ein Vorgang, der im täglichen Praxisbetrieb nur einen einzigen Wimpernschlag in Anspruch nehmen darf, mit der neuen Karte aber eine halbe Ewigkeit dauert. Bis zu zehn Mal länger als mit der normalen KVK, um genau zu sein. Darüber hinaus muss der Arzt jedes Rezept mit einer sechsstelligen PIN signieren. Von weiteren Funktionen – von der Komfortsignatur, wo der Arzt mit Fingerabdruck statt mit PIN elektronisch unterschreibt, bis zur e-Patientenakte – ist das kleine Stück Plastik Lichtjahre entfernt.
Alles im Schneckentempo
Die Ärzte, Apotheker und Patienten in der Testregion sind sauer. Während die Ministerin nach außen die Karte in den höchsten Tönen lobt, erleben sie hier live, was die Karte wirklich kann. Und was alles nicht.
„Ärzte und Krankenschwestern haben wieder mehr Zeit für ihre Patienten“, heißt es dazu aus dem BMG. Das Gegenteil ist der Fall. Schneckentempo und Dauerpannen behindern die Routine in der Praxis und kosten viel Zeit. Zeit, die eigentlich den Patienten zugute kommen sollte und am Ende genau dort fehlt. Derartige Störungen, die den gesamten Betrieb lahmlegen, kann sich keine Praxis leisten – ganz abgesehen davon, dass so ein Bremsklotz für gereizte Stimmung bei Ärzten wie Patienten sorgt. Immer lauter werden deshalb in letzter Zeit die Stimmen, die das IT-Projekt und vor allem die Vorgehensweise des BMG kritisieren.
Die Zahnärzteschaft stand der eGK bekanntlich von Anfang an kritisch gegenüber – tendiert der Mehrwert aus ihrer Sicht doch nach wie vor gegen Null. „Es ist nicht belegt, dass sich die medizinische Versorgung für den Patienten überhaupt verbessert“, bekräftigt KZBV-Vize Dr. Günther E. Buchholz. „Was den Zahnarzt betrifft: Er hat durch das Handling der Karte künftig einfach viel mehr Aufwand.“ Aber auch die Ärzteschaft distanziert sich zunehmend von dem Projekt eGK. Auf dem Ärztetag in Münster gaben die Mediziner einen Warnschuss ab: Sie sagten Nein zur eGK in der jetzigen Form und schlossen sich damit der Zahnärzteschaft an. Weitere Ärzteverbände zogen nach.
Nicht nachzuvollziehen ist für sie speziell das Vorgehen des BMG. Stark bemängelt wird etwa, dass das Ministerium auf Biegen und Brechen am Zeitplan festhalten will. Ungeachtet dessen, dass jede einzelne Phase zuerst ausgewertet und erfolgreich abgeschlossen werden muss, bevor man in die nächste Stufe einsteigt.
Doch darauf pfeift das BMG. Und wies die gematik an, mit der Karte jetzt schon ins Feld zu ziehen. Trotz negativer Testergebnisse. Was einerseits die massiven Probleme erklärt, mit denen die Flensburger Mediziner zu kämpfen haben. Und andererseits erahnen lässt, wie schwierig (und teuer) es wird, in einem späteren Stadium erste Geburtsfehler zu beheben.
Genau das wurde mit der gestaffelten Erprobung vom Labor bis zum Massentest mit 100 000 ursprünglich bezweckt: sämtliche Pflicht- und freiwilligen Anwendungen vorab zu prüfen und mögliche Fehler auszubessern. Gut Ding will eben Weile haben. Davon hält Schmidt allerdings wenig. Dass seitens der Industrie einige technische Produkte noch gar nicht ausgereift und getestet vorliegen, kümmert sie ebenso wenig wie die Tatsache, dass elementare Fragen noch der Klärung bedürfen, Beispiel Finanzierung, Beispiel Datenschutz. Erstere ist im Detail noch immer ungeklärt. „Die Investitionskosten werden zwar von den Kostenträgern übernommen“, bestätigt Jürgen Herbert, Präsident der LZÄK Brandenburg und Telematikexperte der BZÄK. „Welcher technische Standard in der Praxis vorausgesetzt wird, steht indes noch in den Sternen.“ Zur Frage nach dem Umgang mit sensiblen Daten haben die Zahnärzte eine klare Antwort: „Für uns steht fest, dass die eGK das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Patienten genauso zu respektieren hat wie das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient“, betonen Buchholz und Herbert. Aufgrund der Überzeugungsarbeit der KZBV, so Buchholz, wird die Datenspeicherung auf zentralen Servern inzwischen von allen Heilberufsgruppen vehement abgelehnt.
Zurück zum Test. Die Karte durchläuft also nun mit abgespeckten Anwendungen den Check. Und geht sozusagen als Hightech-KVK-Verschnitt an den Start – abgesehen vom e-Rezept, Notfall- und Versichertendaten wird auf dem Chip ja nichts gespeichert. Ob die Tests im Ergebnis positiv verlaufen, spielt für das BMG keine Rolle. Hauptsache, die Erfolgsmeldung in den Medien stimmt. Keine Frage: Das größte IT-Projekt wird kommen – irgendwann, irgendwo, irgendwie.