Medizinische Gründe überwiegen
Nicht zuletzt durch die Ergebnisse der Vierten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS IV), die die hohe Vorkommenshäufigkeit parodontaler Erkrankungen in Deutschland empirisch bei einer bundesweiten Bevölkerungsstichprobe belegt hatte, ist die Diskussion über neue Möglichkeiten entsprechender Versorgungsangebote einschließlich ihrer Systemgestaltung kräftig in Gang gekommen. Vor diesem Hintergrund erschien es nützlich, im Datenmaterial der DMS IV-Studie einmal genauer nachzuschauen, welche Personengruppen überhaupt schon einmal eine „Zahnfleischbehandlung“ in ihrem Leben erhalten hatten (sog. Lebensprävalenz) und welche möglichen Einflussfaktoren aus dem klinisch-medizinischen Bereich, aus dem Bereich der Verhaltensaspekte oder aus dem sozialen Umfeld ein statistisch signifikantes Gewicht im Hinblick auf die PAR-Inanspruchnahme aufwiesen.
Nach Selbstauskunft im sozialwissenschaftlichen Befragungsteil der DMS IV hatten 23,5 Prozent der Erwachsenen (35-44 Jahre) und 43,9 Prozent der bezahnten Senioren (65-74 Jahre) jemals in ihrem Leben eine „Zahnfleischbehandlung (Parodontosebehandlung)“ durch einen Zahnarzt erhalten. Hierbei muss allerdings methodisch in Rechnung gestellt werden, dass die entsprechenden Angaben im Fragebogen subjektive Selbstauskünfte waren und dass zweifellos davon ausgegangen werden muss, dass hier ein Laienbegriff zur „Zahnfleischbehandlung“ zum Zuge kam und die Befragten womöglich nicht nur die eigentliche PAR-Behandlung im Kopf hatten, sondern an eine gingivale Behandlung oder auch an die Prozedur einer Zahnsteinentfernung oder auch an Maßnahmen der professionellen Zahnreinigung (PZR) gedacht haben mögen. Insofern sollten die obigen Prävalenzangaben (23,5 Prozent beziehungsweise 43,9 Prozent) eher im Sinne einer Zahlenüberschätzung – jedenfalls in klinischer Hinsicht – interpretiert werden.
Statistische Auswertung
Als statistisches Auswertungsverfahren wurde eine so genannte „Logistische Regressionsanalyse“ gewählt. Bei diesem Verfahren kann der Einfluss mehrerer unabhängiger Variablen (Prädiktoren) auf eine Zielvariable (hier: Zahnfleischbehandlung ja/nein) untersucht werden. Die ermittelten „Odds Ratio (OR)“ stellen dann ein Assoziationsmaß dar, das ergibt, um welches Gewicht sich die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen einer bestimmten Ausprägung der Zielvariablen verändert, wenn sich die Ausprägung einer Einflussvariablen – unter Konstanthaltung der übrigen in die Analyse einbezogenen Variablen – um eine Einheit verändert.
Folgende zwölf potentielle Einflussvariablen wurden aus der DMS IV für die Analyse abgeprüft:
• Regionalraum (Ost/West)• Geschlecht• Sozialstatus (niedrig/mittel/hoch)• Mundhygieneniveau (gut/schlecht)• gesundheitsbezogene Kontrollkognitionen• allgemeines Inanspruchnahmemuster bei Zahnarztbesuchen (beschwerdenorientiert/ kontrollorientiert)• Zigarettenrauchen• monatliches Haushaltseinkommen• Art der Krankenversicherung (gesetzlich/ privat)• Wurzelkaries (ja/nein)• Anzahl fehlender Zähne• Attachmentverluste (Mittelwerte)
Die Auswahl dieser zwölf möglichen Einflussvariablen für eine mögliche Entscheidung auf eine „Zahnfleischbehandlung“ erfolgte sowohl aufgrund allgemeiner Plausibilitätsüberlegungen aus dem DMS IV-Datenbestand als auch aufgrund vorhandener Erkenntnisse aus der parodontalepidemiologischen Literatur.
Die Ergebnisse – jeweils für die Erwachsenen- und Seniorenkohorte – zeigen die beiden Tabellen.
Medizinische Gründe Überwiegen
Sowohl in der Erwachsenengruppe (35-44- Jährige) als auch in der Seniorengruppe (65-74-Jährige) haben die klinisch-medizinischen Variablen den stärksten Erklärungswert für die Inanspruchnahme einer „Zahnfleischbehandlung“. Das kommt am stärksten bei Einbeziehung der Attachmentverluste (Mittelwerte) zum Ausdruck, würde sich aber auch – allerdings weniger stark – bei Einbeziehung des CPI oder der Sondierungstiefe zeigen. Nimmt man diese Variablen gemeinsam in die Analyse, setzt sich immer der Attachmentverlust (und zwar als Mittelwerte stärker als als Maximalwerte) gegenüber den anderen klinischmedizinischen Variablen durch, so dass diese im statistischen Gesamtergebnis verschwinden.
Als weitere eigenständige Einflussvariablen zeigen sich die ebenfalls einbezogenen Verhaltens- und Sozialvariablen, und zwar der Sozialstatus der befragten und untersuchten Personen und dann – jeweils kohortenabhängig – entweder noch die Regionalraumzugehörigkeit (Erwachsenengruppe) oder die Art der Krankenversicherung (Seniorengruppe). Alle anderen, hier untersuchten Variablen oder Merkmale korrelieren entweder mehr oder weniger stark mit den hier identifizierten Kernvariablen oder sie haben auch unabhängig von den anderen Variablen keinen signifikanten Einfluss auf die Zielvariable.
Bemerkenswert ist noch die Richtungsänderung des Zusammenhangs mit dem Sozialstatus bei Erwachsenen und Senioren. Während die Inanspruchnahme einer „Zahnfleischbehandlung“ bei den Erwachsenen mit höherem Sozialstatus zurückgeht, ist es bei den Senioren umgekehrt. Damit stimmt überein, dass bei den Erwachsenen relativ mehr „Zahnfleischbehandlungen“ in Ostdeutschland durchgeführt werden beziehungsweise worden sind, während bei den Senioren ein Privatversichertenstatus (allerdings fallzahlbedingt nur schwach signifikant) mit ausschlaggebend für eine höhere Inanspruchnahme ist.
Versorgungspolitisch relevant
Insgesamt ist dieses Gesamtergebnis als bemerkenswert einzustufen. Es ist nach der allgemeinen Erkenntnislage aus der Sozialepidemiologie keineswegs selbstverständlich, dass sich bei einem behandlungsbedürftigen Erkrankungsbild immer und durchgängig ausschließlich medizinisch-klinische Gegebenheiten bei einer ärztlichen Inanspruchnahme durchsetzen, da Fragen der ökonomischen Lebenslage, soziale Ressourcen und Netzwerke oder auch Persönlichkeitsfaktoren (Gesundheitsbewusstsein, subjektive Krankheitsverarbeitung usw.) mehr oder weniger auf den „Entscheid“ durchschlagen können. Im Falle der „Zahnfleischbehandlung“ stehen jedenfalls bei denjenigen Bevölkerungsteilen, die sich überhaupt einer solchen Behandlung unterzogen haben, die klinisch-medizinischen Faktoren im Vordergrund – aus versorgungspolitischer Sicht ein effektives Ergebnis.
Dr. Dipl.-Sozw. Wolfgang Micheelis,Leiter des IDZDipl.-Vw., Dipl.-Ing. Ernst SchröderTNS Healthcare GesundheitsforschungMünchen
Korrespondenzadresse:Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ)Universitätsstr. 7350931 Köln
\n
Erwachsene
\n
Prädiktor
Kategorien
n
Präv.: ja (%)
Signifikanz
Odds Ratio
\n
Attachmentverlust
\n
in mm (Mittelwerte)
\n
Quintile
< 1,86
\n
1,87–2,41
\n
2,42-2,84
\n
2,85-3,44
\n
3,45-8,81
190
\n
188
\n
171
\n
181
\n
178
11,8
\n
19,7
\n
26,9
\n
23,8
\n
38,2
0,045
\n
0,001
\n
0,006
\n
0,000
1,00
\n
1,88
\n
2,81
\n
2,33
\n
3,87
\n
Sozialstatus
niedrig
\n
mittel
\n
hoch
220
\n
371
\n
317
31,4
\n
23,9
\n
17,0
\n
0,056
\n
0,003
1,00
\n
0,67
\n
0,51
\n
Ost/West
West
\n
Ost
747
\n
169
21,8
\n
30,8
\n
\n
0,026
1,00
\n
1,60
\n
Alle
916
23,5
\n
\n
Senioren (ohne Zahnlose)
\n
Prädiktor
Kategorien
n
Präv.: ja (%)
Signifikanz
Odds Ratio
\n
Sozialstatus
niedrig
\n
mittel
\n
hoch
473
\n
165
\n
154
38,3
\n
54,5
\n
50,0
\n
0,008
\n
0,639
1,00
\n
1,69
\n
1,11
\n
Krankenversicherung
gesetzlich
\n
privat
722
\n
74
42,5
\n
56,8
\n
0,080
1,00
\n
1,65
\n
Attachmentverlust
\n
in mm (Mittelwerte)
\n
Quintile
1,08-2,97
\n
3,0-3,75
\n
3,76-4,46
\n
4,48-5,33
\n
5,34-11,17
158
\n
159
\n
158
\n
161
\n
157
34,2
\n
45,3
\n
41,3
\n
50,9
\n
47,1
\n
0,069
\n
0,209
\n
0,010
\n
0,005
1,00
\n
1,58
\n
1,38
\n
1,92
\n
2,07
\n
\n
Alle
793
43,9
\n