Warnung vor dem Hype
Unter Patentschutz stehende Blockbuster bescheren nicht nur pharmazeutischen Unternehmen Traumumsätze, sondern einer Vielzahl von Patienten Linderung ihrer Leiden. Doch ob auch in Zukunft das Heil in Pillen für Millionen steckt, wird derzeit unter dem Thema „Individuelle Medizin“ lebhaft diskutiert. Denn ungünstige genetische Konstellationen stellen für manchen Erkrankten den Therapieerfolg in Frage. Diesen und weiteren Fragestellungen gingen Experten auf dem 13. Symposium des Teltower Kreises unter dem Motto „Individualisierte Medizin – kollektive Verantwortung. Was kann und soll das Solidarsystem leisten?“ am 5. November in Berlin nach.
Unterschiedliche Wirkungen
Die Ursache dafür, dass bei gleicher Dosierung eines Medikaments Intensität und Dauer von Wirkungen und Nebenwirkungen von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sein können, liegt häufig in der Variabilität der Funktion bestimmter Enzyme. Diese sind für den Metabolismus eines Arzneimittels verantwortlich. Nach Ansicht von Prof. Dr. Ivar Roots, Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Charité, Berlin, lassen sich bereits heute für eine Reihe von Arzneimitteln unwirksame beziehungsweise nebenwirkungsträchtige Behandlungen durch Tests vermeiden: „Bei einer nach pharmakogenetischen Gesichtspunkten optimierten Arzneitherapie bekommt der Patient nur solche Medikamente, von denen eine Wirksamkeit bei ihm zu erwarten ist, und zwar in der für ihn optimalen Dosierung. Durch dieses Vorgehen lässt sich auch ein Teil der schweren Nebenwirkungen vermeiden. Das hilft auch Kosten zu reduzieren.“ Für ihn sei es ein „Gebot der Ethik“, die Rechte dieser Betroffenen auf individuelle Behandlung zu respektieren. Bislang sei die uralte ärztliche Erfahrung, dass Patienten sehr unterschiedlich auf Arzneimittel reagieren, jedoch in den Leitlinien noch nicht ausreichend abgebildet, bemängelte Roots. So gebe es sogenannte „Non-Responder“, bei denen ein Arzneimittel nicht wirkt, bei anderen dagegen könne die Wirkung zu stark ausgeprägt sein. Insbesondere Arzneimittelnebenwirkungen seien von individuellen Faktoren abhängig, die aber oft im Verborgenen lägen.
Dr. Rainer Hess, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), warnte vor einer Utopie, die allen Versicherten eine maßgeschneiderte Diagnostik und Therapie verspreche. Entscheidend sei für ihn die Frage, für welche Patientenkohorte beziehungsweise Indikationen Gentests durchgeführt werden sollten. Die erste Zulassung einer Kopplung eines Gentests mit einem Arzneimittel durch den G-BA werde der Markstein sein für die Zukunft, so Hess. „Deshalb werden wir uns die neuen Methoden der individuellen Medizin sehr genau anschauen. Sie unterliegen den gleichen Kriterien, die wir an alle Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anlegen. Der G-BA wird auch hier das komplette Instrumentarium anwenden“, so Hess. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Vizepräsident der Bundesärztekammer (BÄK), warnte ebenfalls vor übertriebenen Erwartungen: „Individualisierte Medizin ist nicht Luxus, sondern Fortschritt. Sie muss sich aber der Überprüfung ihres Wertes und ihres Sinns stellen“. Natürlich müsse dafür gesorgt sein, Patienten alles medizinisch Notwendige zur Verfügung zu stellen. Die Schere zwischen wachsenden Möglichkeiten und geringer werdenden Mitteln gehe jedoch immer weiter auseinander. „Wir brauchen eine gesellschaftliche konsentierte Priorisierung“, so der BÄK-Vize. Auch sieht Montgomery Probleme in der tatsächlichen Anwendbarkeit und industriellen Vermarktung von individualisierter Medizin. Er zog Parallelen zu den Arzneimitteln für seltene Erkrankungen, sogenannten „Orphan Drugs“, die „hochindividuelle Therapieverfahren darstellen, aber es gibt niemand, der sie anbietet, weil sie sich nicht lohnen“.
Balance suchen
Eine Balance zwischen den Chancen und Risiken einer individualisierten Medizin suchte der Theologe Prof. Dr. Peter Dabrock, Philipps-Universität Marburg. Er sprach sich in seiner sozialethischen Reflexion dieses „Hypes um eine von Biomarkern dominierten Medizin“ für eine kritische und ergebnisoffene Diskussion über die Konsequenzen für Individuum und Gesellschaft aus. Er forderte eine öffentliche Debatte, die zu klären hätte, „ob die als realistisch eingeschätzten Ziele der individualisierten Medizin in der Gesellschaft akzeptiert werden oder nicht“. Sollte sich daraus eine gesellschaftliche Zustimmung ergeben, müsste in einem zweiten Schritt die Frage nach der kollektiven Verantwortung diskutiert werden.
Spätestens dann steht die Finanzierung dieser individuellen Leistungen auf der Agenda.
Wolfgang StraßmeirStubenrauchstr. 17 A12161 Berlin