Repetitorium

Depressionen – neue Leitlinie

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Bei der Versorgung von Menschen mit Depressionen bestehen offenbar noch deutliche Defizite. So wird die Erkrankung häufig nicht erkannt, und wenn sie diagnostiziert wird, erfolgt oft keine adäquate Behandlung. Ein Grund hierfür sind Vorbehalte gegenüber Psychopharmaka und auch gegenüber einer Psychotherapie. Was bei Diagnostik und Therapie der unipolaren Depression zu beachten ist, hat deshalb jetzt eine aktuelle Leitlinie klargestellt.

Interesselosigkeit und Antriebsminderung sind die charakteristischen Symptome einer depressiven Störung. Depressive Patienten neigen zum Grübeln, werden von starken Selbstzweifeln geplagt, Freudlosigkeit und Trübsinn beherrschen das Denken. Schon die kleinste Anstrengung ermüdet sie. Die Betroffenen sind in ihrer Lebensführung erheblich eingeschränkt und kaum mehr in der Lage, ihren Alltag zu meistern. Problematisch neben dieser starken Einschränkung der Lebensqualität und der Lebensführung ist vor allem die erhöhte Mortalität bei der Depression infolge der hohen Suizidalität.

Verschiedene Fachgesellschaften – darunter die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie, die Deutsche Gesellschaft für Psychologie und der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker – haben sich deshalb zusammengetan und eine neue Versorgungsleit- linie Depression entwickelt, um Diagnostik und Therapie der Erkrankung zu verbessern.

Als Störung sehr weit verbreitet

Depressionen gehören zu den häufigsten Erkrankungen in unserer modernen Gesellschaft, werden aber hinsichtlich ihrer Inzidenz und Prävalenz meist unterschätzt. Die Lebenszeitprävalenz, also die Wahrscheinlichkeit, im Verlauf des Lebens an einer Depression zu erkranken, liegt national wie auch international bei 16 bis 20 Prozent. Konkret bedeutet das, dass rund jeder fünfte Bundesbürger mindestens einmal in seinem Leben an einer Depression leidet. Vier Prozent der Menschen erkranken an einer Dysthymie, also an einer über mehr als zwei Jahre anhaltenden Depression. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung sind 5,6 Prozent der 18- bis 65-Jährigen betroffen, was konkret bedeutet, dass in Deutschland derzeit mehr als drei Millionen Menschen unter einer Depression leiden.

Frauen sind dabei allgemein häufiger betroffen als Männer, wobei die Erkrankung bei ihnen früher zu beginnen scheint. In der aktuellen Leitlinie wird in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass bei jungen Frauen zwischen 15 und 19 Jahren die Rate der Suizidversuche am höchsten ist.

Depressionen treten aber nicht nur in jungen Jahren auf, sondern können sich praktisch in jedem Alter manifestieren. Sie sind im höheren Lebensalter die häufigste psychiatrische Störung, wobei die Rate der erfolgten Suizide mit dem Lebensalter steigt und bei alten Menschen am höchsten ist.

Hohe Komorbidität

Ein wesentliches Merkmal der Erkrankung ist die hohe Komorbidität mit psychischen und auch mit somatischen Störungen. Sie trägt erheblich dazu bei, dass die Depression oft nicht erkannt wird. Daten zufolge weisen 60 Prozent der depressiven Patienten mindestens eine weitere psychische Störung auf, wobei Angst- und Panikerkrankungen im Vordergrund stehen, gefolgt von einer Alkohol-, Medikamenten und Drogenabhängigkeit. Immerhin ein Drittel aller Patienten weist anamnestisch einen Suchtmittelmissbrauch auf. Auch Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen und Zwangs- störungen sind bei depressiven Patienten gegenüber der Normalbevölkerung überproportional häufig anzutreffen.

Bei den somatischen Erkrankungen ist zu beachten, dass diese selbst – möglicher- weise infolge von Funktionseinschränkungen oder anderen Krankheitsbelastungen – Depressionen auf den Plan rufen können. Davon abgesehen haben depressive Stimmungen aber auch Auswirkungen auf das körperliche Befinden. Sehr häufig bestehen gleichzeitig Schlafstörungen und Erschöpfungssyndrome und es gibt ein höheres Risiko für verschiedenste somatische Erkrankungen wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Allergien, Krebs, Migräne und Asthma. Die kausalen Zusammenhänge dieser Assoziation sind bislang jedoch nicht klar.

Unterschiedliche Verlaufsformen

Depressionen verlaufen keinesfalls immer gleich, es handelt sich vielmehr um eine Erkrankung mit heterogenem Verlauf. In aller Regel treten die Störungen episodisch auf und sie können dabei auch ohne weitere Behandlung abklingen. Aus früheren Untersuchungen wird die Episodendauer un- behandelt auf sechs bis acht Monate geschätzt, bei entsprechender Therapie liegt die mittlere Krankheitsdauer pro Episode bei einer unipolaren Depression bei 16 Wochen.

Es kann dabei zu einer vollständigen Remission kommen, allerdings können auch Residualsymptome bestehen bleiben, die – so wird in der Leitlinie betont – die Wahrscheinlichkeit eines raschen Rezidivs erhöhen. Besteht die Grunderkrankung mehr als zwei Jahre fort, so liegt eine Dysthymie vor, bei anhaltender voller depressiver Symptomatik wird von einer chronischen depressiven Episode gesprochen.

Die Erkrankung kann zudem wie im Falle der Winterdepression als saisonal bedingte Depression auftreten oder wie bei der Wochenbettdepression an bestimmte Lebens-situationen gebunden sein.

Von der unipolaren Depression ist die bipolare Erkrankung abzugrenzen. So entwickeln rund ein Fünftel der depressiven Patienten auch hypomanische, manische oder gemischte Episoden. Die bipolare Depression wird mittlerweile als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet. Ihre Prävalenz liegt bei rund einem Prozent der Bevölkerung.

Hohe Rezidivgefahr

Hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die an einer Depression erkranken, im Verlauf der kommenden Jahre einen Rückfall erleiden. Nach den Informationen der Leitlinie tritt bei jedem zweiten Patienten nach der Ersterkrankung erneut eine depressive Episode auf, wobei sich die weitere Rezidivgefahr mit jeder weiteren Episode steigert. Sie liegt nach der zweiten depressiven Phase schon bei 70 Prozent und nach der dritten Episode bei 90 Prozent. Umgekehrt wird das Rezidivrisiko insgesamt umso geringer, je länger ein Patient rückfallfrei bleibt.

Risikofaktoren der Depression

Da Depressionen ein heterogenes Krankheitsbild mit unterschiedlichen Verlaufsformen darstellen, ist eine unifaktorielle Ätiopathogenese unwahrscheinlich. Experten gehen vielmehr von einer multifaktoriellen Störung aus, die durch verschiedenste biologische und psychosoziale Faktoren getriggert werden kann. Diese können offenbar von Patient zu Patient unterschiedlich sein, wobei sich die Erkrankung nach derzeitiger Kenntnis auf einer erhöhten genetisch bedingten Vulnerabilität entwickelt. Auf dem Boden dieser genetischen Basis kann sich dann in bestimmten Situationen wie etwa einer hormonellen Umstellung die Erkrankung manifestieren, zum Beispiel in Form der sogenannten Wochenbettdepression.

Bei den Triggern der Erkrankung werden immer wieder vor allem besondere Stresssituationen genannt sowie Verlusterlebnisse, und zwar zum Beispiel der Verlust des Lebenspartners oder auch der Verlust des Arbeitsplatzes.

Diagnose „Depression“

Als Hauptmerkmale der Depression, die von diagnostischer Relevanz sind, nennt die neue S3-Leitlinie eine depressive gedrückte Stimmung, Interessenverlust und Freud- losigkeit oder auch eine Verminderung des Antriebs mit erhöhter Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung. Es werden leichte, mittelschwere und schwere depressive Episoden differenziert, wobei von einer „Major Depression“ auszugehen ist, wenn mindestens fünf Depressions-Symptome bestehen. Neben den genannten Symptomen sind dies zum Beispiel eine verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, ein vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle und ein Gefühl der Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Suizidgedanken oder sogar eine erfolgte Selbstverletzung oder ein Suizidversuch, Schlafstörungen sowie ein verminderter Appetit.

Die Symptome werden von den Patienten meist jedoch nicht so klar verbalisiert. Die Betroffenen selbst sprechen eher davon, sich niedergeschlagen und hoffnungslos oder sogar verzweifelt zu fühlen. Andere erleben sich eher als gefühllos und sind nicht mehr in der Lage, Freude oder Trauer zu empfinden. Die Mehrzahl der Patienten erlebt außerdem Angstgefühle ohne konkreten Gegenstand der Angst, sondern eher als allgemeine Zukunftsangst. Es besteht häufig das Gefühl, den Anforderungen nicht gewachsen und allgemein überfordert zu sein. Typisch ist für die Depression zudem eine tageszeitliche Schwankung mit einem meist ausgeprägten Morgentief, während sich die Stimmung meistens im weiteren Tagesverlauf eher bessert.

Da betroffene Patienten die Symptome der Depression oft nicht ansprechen, müssen hinweisende Beschwerden mit ins Kalkül gezogen werden. Dazu gehören beispielweise Klagen über Abgeschlagenheit und allgemeine Mattigkeit, Schlafstörungen, Appetitstörungen, Magendruck, Obstipation und auch Diarrhoen, ein diffuser Kopfschmerz sowie ein Druckgefühl im Hals oder in der Brust. Auch wenn Patienten über funktio-nelle Herz-Kreislauf-Probleme klagen, wenn sie Schwindelgefühle angeben, Sehstörungen, Muskelverspannungen sowie einen Libidoverlust und andere sexuelle Störungen, ist unter anderem an die Möglichkeit einer depressiven Erkrankung als Ursache zu denken.

Hohe Suizidalität

Ein besonderes Problem bei der Depression ist die Suizidalität. Viele Patienten geben an, sich zu wünschen, an einer unheilbaren Erkrankung oder durch einen Unfall zu sterben und häufig drehen die Gedanken sich auch konkret um eine mögliche aktive Beendigung des Lebens. Das Suizidrisiko ist bei depressiven Menschen dabei laut Leitlinie rund 30-mal höher als in der Normalbevölkerung.

Es sollte explizit und empathisch erfragt werden, wobei es nach Angaben der Experten eine weit verbreitete Fehleinschätzung ist, man könne durch solche Fragen die Patienten möglicherweise erst auf den Gedanken an den Freitod bringen.

Tatsache ist vielmehr, dass 60 bis 70 Prozent der Patienten während einer depressiven Episode tatsächlich auch Suizidgedanken hegen.

Behandlung auf mehreren Ebenen

Ziel der Behandlung der Depression ist es, die aktuelle Symptomatik zu mindern, was selbstverständlich auch die Suizidgefahr impliziert, und eine – möglichst – vollstän-dige Remission zu erzielen.

Die berufliche Leistungsfähigkeit soll ebenso wie das seelische Gleichgewicht wiederhergestellt und der Patient soll psychosozial wieder integriert werden. Mit zur Behandlung gehört allerdings auch die Rezidivprophylaxe, um so langfristig dem Auftreten erneuter depressiver Episoden entgegenzuwirken.

Welche Therapieverfahren in Frage kommen, richtet sich laut Leitlinie nach der Schwere der Erkrankung, wobei die Palette von einer aktiv-abwartenden Begleitung ohne weitere Maßnahmen über die medi-kamentöse Behandlung und die Psychotherapie bis hin zur Kombination der Verfahren reicht.

Es gibt darüber hinaus weitere spezielle Therapieformen wie die Elektrokrampftherapie, die Lichttherapie oder die Wachtherapie sowie künstlerische Therapieformen, die im individuellen Fall eingesetzt werden können.

Die Akuttherapie

In der Akuttherapie wird üblicherweise mit Antidepressiva behandelt, wobei eine Vielzahl unterschiedlicher Substanzgruppen und Wirkstoffe verfügbar ist. Zum Einsatz kommen nach wie vor die bereits älteren tri- und tetrazyklischen Antidepressiva, die Monoaminooxidase-Inhibitoren (MAO-Hemmer) sowie die modernen selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (sSSRI). Darüber hinaus gibt es auch selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, duale selektive Serotonin/Noradrenalin-Rückaufnahmehemmer sowie selektive Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahme-hemmer.

Die Wirksamkeit der einzelnen Substanzen wurde im Rahmen klinischer Studien geprüft und wird in ihrer Ausprägung anhand der Verbesserung der sogenannten „Hamilton Rating Scale of Depression“ (HAM-D), einer Skala zur Diagnostik und Verlaufs- kontrolle der Depression, beurteilt. Die einzelnen Wirkstoffe unterscheiden sich, wie die Klassifizierungen schon andeuten, in ihren Wirkeffekten auf die verschiedenen Neurotransmittersysteme. Sie zeigen ferner Unterschiede in der Wirkstärke, aber auch in der Geschwindigkeit des Wirkeintritts und es gibt Unterschiede hinsichtlich des Nebenwirkungsrisikos.

Bei adäquater Dosierung ist – so die Leit- linien – durch den Einsatz von Antidepressiva bei 70 Prozent der Patienten innerhalb der ersten beiden Behandlungswochen eine Besserung der Akutsymptomatik zu erzielen. Tritt keine Besserung in den ersten drei Wochen ein, so ist die Wahrscheinlichkeit des Ansprechens bei weiterer Einnahme des Mittels gering und die Behandlung sollte umgestellt werden. Bei hoher Suizidalität ist außerdem die Behandlung mit Stimmungsstabilisierern wie dem Lithium sinnvoll.

Unabhängig von den klassischen Anti- depressiva werden auch Phythopharmaka für die Behandlung der Depression genutzt, wobei jedoch nur das Johanniskraut (Hypericum perforatum) eine Rolle spielt, allerdings nur bei leichten bis mittelschweren Depressionen.

Unerlässlich: Die Erhaltungstherapie

Nach erfolgreicher Akuttherapie sollte – so die aktuellen Empfehlungen – bei Patienten mit unipolarer Depression die medikamentöse Behandlung noch mindestens über einen Zeitraum von vier bis neun Monaten fortgesetzt werden und das mit dem Anti-depressivum, mit dem die Remission erzielt wurde und zudem in der aktuellen Dosierung. Dadurch lässt sich das Rückfallrisiko um rund 70 Prozent senken. Bei Patienten mit zwei und mehr depressiven Episoden wird in den Leitlinien eine Erhaltungstherapie von mindestens zwei Jahren empfohlen. Bei suizidgefährdeten Patienten ist auch im Rahmen der Rezidivprophylaxe eine Medikation mit Lithium in Betracht zu ziehen, da Lithiumsalze den aktuellen Befunden zufolge die Suizidgefahr senken.

Es wird in den aktuellen Empfehlungen weiterhin festgehalten, dass Antipsychotika keine primäre Indikation bei der Depression besitzen und bei diesem Krankheitsbild nur zum Einsatz kommen sollten, wenn eine wahnhafte Depression besteht, die Erkrankung also auch mit Wahnvorstellungen einhergeht.

Wichtig für den Erhalt der Remission ist neben der Pharmakotherapie eine gute Psychoeduktion, wobei neben den Patienten selbst auch die Angehörigen einzubeziehen sind.

Etabliert: Die Psychotherapie

Etabliert bei der Behandlung der Depres- sion ist ferner die Psychotherapie, wobei jedoch unterschiedliche Verfahren zur Anwendung kommen. Von entscheidender Bedeutung ist entsprechend den Leitlinien die Qualität der therapeutischen Beziehung. Es geht dabei darum, eine „akzeptierende, offene und aktiv zuhörende und mitfühlende Arbeitsbeziehung zu etablieren, die dazu beiträgt, Gefühle der Wertlosigkeit und Demoralisierung seitens der Patienten zu lindern sowie soziale Unterstützung zu gewähren“.

Christine VetterMerkenicher Str. 22450735 Köln

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