Neue Notfallfolge

Trainieren für den Tag X

„Vorbeugen ist besser als Bohren“, diese Maxime der Zahnmedizin zur Prophylaxe gilt umso mehr in der Notfallmedizin. Insbesondere deswegen, weil Unsicherheit und fehlende Routine beim Auftreten eines Zwischenfalls die Beherrschung der Situation erschweren oder sogar verhindern können. Von einem effizienten Notfallmanagement sind viele Praxisteams leider oft noch weit entfernt. Dies darf jedoch nicht zu einer fatalistischen Grundeinstellung oder Nichtstun führen. Dieses soll sich nun ändern. Trainingsstart ab Seite 44.

Monika Daubländer

Die neue Folge zum Thema Notfallmedizin soll daher bestehendes Wissen zu Erkrankungen und deren möglichen Komplikationen, aber auch Basismaßnahmen zu Diagnostik und Therapie von akuten Notfällen bei den Leserinnen und Lesern aktualisieren und durch klare Empfehlungen die Handlungsfähigkeit verbessern.

Ein theoretischer Exkurs wie dieser kann dabei nur einen Teil der Anforderungen erfüllen, nämlich die Basis bieten, das Interesse an der Vertiefung der Inhalte und vor allem an praktischen Übungen wecken. Notfallmedizin lebt ähnlich wie die Zahnmedizin vom eigenen Tun.

Aktuelle Datenlage zum Thema Notfalleinsatz

Die Datenlage zur Häufigkeit von Notfällen in Zahnarztpraxen ist dünn. Dies ist zum einen darauf zurück zu führen, dass Zahlen nur durch Selbstauskünfte der Zahnärztinnen und Zahnärzte zu generieren sind. Zum anderen ist dies aber ein Thema, das von den Kolleginnen und Kollegen nicht gerne öffentlich dargestellt und daher sehr zurückhaltend diskutiert wird. Dies zeigt sich schon in der Tatsache, dass im Rahmen von anonymisierten Fragebogenstudien die Beteiligung relativ gering ist. Die veröffentlichten Daten sind daher eher als „underreporting“ zu interpretieren. Dennoch konnte eine aktuelle Studie in Sachsen an einer Stichprobe von 620 Zahnärzten (2 998 waren angeschrieben worden) zeigen, dass 57 Prozent innerhalb von zwölf Monaten (Januar bis Dezember 2004) mit bis zu drei Notfällen in ihrer Praxis konfrontiert waren. Bei 36 Prozent waren es sogar bis zu zehn Ereignisse innerhalb dieses Zeitraumes. Die vasovagale Synkope war dabei der häufigste Zwischenfall, 358 Kollegen berichteten über insgesamt 1 238 Ereignisse. Erfreulicherweise waren nur zwei Kollegen mit einem Herz-Kreislaufstillstand konfrontiert, der damit gleichzeitig der seltenste Notfall war. In absteigender Häufigkeit traten darüber hinaus hypertensive Krisen, Krampfanfälle, Hypoglykämien, Asthmaanfälle, akutes Koronarsyndrom, Anaphylaxie, Atemwegsverlegung, Schlaganfall und andere Zwischenfälle auf. Dieses Spektrum von Notfällen ist auch in der internationalen Literatur so beschrieben, wobei die Reihenfolge variiert, was aber letztendlich für die Ausbildung irrelevant bleibt.

Die Tatsache, dass es sich bei einem Großteil der Ereignisse um eine Dekompensation der bestehenden Grunderkrankung handelt, lässt darauf schließen, dass aufgrund der steigenden Zahl von multimorbiden Patienten in den Zahnarztpraxen auch die Frequenz von Zwischenfällen zunehmen wird. Dies stellt eine Herausforderung für die studentische und postgraduale Ausbildung dar.

Mit der Thematik der Ausbildung beschäftigt sich der zweite Teil der Studie. Fast alle (92 Prozent) der Befragten hatten irgendwann im Rahmen der beruflichen Tätigkeit einen Notfallkurs absolviert, 23 Prozent einmalig und 68 Prozent mehrmals. Der letzte Kurs lag bei 32 Prozent der Befragten mehr als zwölf und bei 28 Prozent mehr als 24 Monate zurück. 41 Prozent absolvierten eine notfallmedizinische Fortbildung innerhalb des letzten Jahres. Erfreulicherweise waren die meisten der oben aufgeführten Zwischenfälle Thema dieser Kurse gewesen. Außerdem wurden bei fast allen praktische Übungen integriert. Acht Prozent der Zahnärzte hatten tatsächlich noch nie an einer entsprechenden Ausbildung teilgenommen.

Wirklich sicher in der Durchführung der geübten Maßnahmen fühlten sich die antwortenden Zahnärzte dennoch nicht. Während Blutdruckmessen und Pulsfühlen von fast allen (98 beziehungsweise 97 Prozent) subjektiv beherrscht werden, trauen sich nur 57 Prozent, die Beutel-Maskenbeatmung, 62 Prozent die Thoraxkompression und 49 Prozent die Herz-Lungen-Wiederbelebung zu. 32 Prozent können nach eigenen Angaben einen venösen Zugang legen.

Inwieweit diese Selbsteinschätzung wirklich zutrifft, muss Spekulation bleiben.

In einer eigenen Untersuchung konnte festgestellt werden, dass zwar für einzelne Maßnahmen (zum Beispiel Kopfüberstreckung, Primärinsufflation, Thoraxkompression) gute Vorkenntnisse bestanden, jedoch komplexere Prozesse wie diagnostisches Vorgehen, Abstimmung von Ventilation und Thoraxkompression nur von wenigen beherrscht wurden . Erfreulicherweise konnten diese Defizite durch unmittelbare gezielte Vor-Ort-Schulung und weiteres Üben deutlich reduziert werden.

Bezogen auf die einzelnen Krankheitsbilder sieht die Selbsteinschätzung der Zahnärztinnen und Zahnärzte so aus, dass sie ihre diagnostischen Fähigkeiten als durchaus gut einschätzen, die therapeutische Umsetzung aber wesentlich schlechter.

So lässt sich auch aus den Angaben schließen, dass diese Selbsteinschätzung durch entsprechende Fortbildungen erheblich gesteigert werden kann.

Einigkeit besteht auch darüber, dass nicht nur die Leistung des Zahnarztes über den Erfolg der Notfalltherapie entscheidet, sondern die des gesamten Teams. Damit rückt auch die Schulung der zahnmedizinischen Fachangestellten beziehungsweise der anderen Mitarbeiter in den Fokus, denn nicht alle Fortbildungsangebote adressieren das Team als Teilnehmer. Wenn unterschiedliche Lerninhalte in der sowieso schon kritischen Notfallsituation zusammentreffen, sind zusätzliche Verzögerungen und Fehler vorprogrammiert.

Jeder ist verpflichtet, Erste Hilfe zu leisten und wird zumindest bei dem Erwerb der Fahrtauglichkeit darin ausgebildet. Im Strafgesetzbuch ist dies negativ formuliert, nämlich als unterlassene Hilfeleistung (§ 323c). Bei Personen in der Krankenversorgung werden intuitiv in Qualität und Ausmaß höhere Anforderungen gestellt, da die Wahrscheinlichkeit für einen Notfall höher ist.

Hieraus lässt sich zumindest eine ethische Verpflichtung zur regelmäßigen Fortbildung ableiten.

Notfallequipment ist oft mangelhaft gewartet

Ein weiterer entscheidender Punkt für die Versorgung der Patienten ist darüber hinaus die notfallmedizinische Ausstattung der Praxis. Gesetzliche Vorschriften gibt es nur bezüglich der Versorgung der Mitarbeiter durch die Berufsgenossenschaft. Bezüglich Vorhaltung und Ausstattung eines Notfallequipments existieren ansonsten nur Empfehlungen unterschiedlichster Qualität. Erfreulicherweise bessert sich diese Situation aber aktuell durch die um sich greifende Zertifizierung der Praxen, so dass von den Qualitätssicherungsmaßnahmen auch die notfallmedizinische Versorgung profitiert. Zahlenmäßig betrachtet, ist die Ausrüstung der deutschen Praxen auch gut. 84 Prozent der Zahnärzte in Sachsen besitzen einen Notfallkoffer und nur fünf Prozent halten gar nichts vor. Immerhin zwei Prozent haben einen Defibrillator gekauft, was allerdings nicht als generell und unbedingt erforderlich angeraten wird. Erfahrungsgemäß ist das vorhandene Material aber weder regelmäßig gewartet, noch sind die Praxismitglieder im Umgang mit den Hilfsmitteln (Abbildung) gut geschult. Hierdurch entsteht nicht nur zusätzlicher Stress, sondern es resultieren Verzögerungen und Fehler, die unter Umständen verhindern, Leben zu retten.

Vision

Notfallmedizinische Aspekte gehören zum zahnärztlichen Berufsalltag, da Zwischenfälle jederzeit und auch bei primär gesund erscheinenden Personen auftreten können. Ohne Behandlung können sie zu lebensbedrohlichen Ereignissen werden. Das rechtzeitige Erkennen und die entsprechende Vorbereitung sind daher die einzigen realisierbaren Bausteine der Prophylaxe. Denn diese selbst ist nur in begrenztem Maße möglich.

Das gesamte zahnmedizinische Team sollte mit grundlegendem Wissen und Fertigkeiten ausgestattet sein, um in einer Notfallsituation adäquat zu reagieren und die Erstversorgung durchzuführen sowie die Rettungskette in Gang zu setzen. Die hierfür notwendigen Algorithmen können im Rahmen dieser Serie nur exemplarisch dargestellt werden und sind entsprechend den lokalen Gegebenheiten zu modifizieren.

Idealerweise gibt es in jeder Praxis, aber natürlich auch Ambulanz und Station einen individuellen Notfallplan, damit alle Mitarbeiter im Vorhinein bereits über die notwendigen Informationen verfügen oder notfalls erst dann darauf zurückgreifen können.

80 Prozent aller Zwischenfälle in der Medizin basieren auf vermeidbaren menschlichen Fehlern. Die Minimierung der Fehlerrate setzt primär die Kenntnis der Fehlerentstehung auf medizinischer und psychologischer Ebene voraus und erfordert ein effizientes Fehlermanagement. Dies bedeutet, dass im Rahmen einer Analyse im Team im ersten Schritt die Fehler herausgearbeitet und benannt werden und im nächsten Schritt das geänderte Vorgehen festgelegt wird. Dies sollte im Rahmen von Teamsitzungen erfolgen, so dass alle an dem Prozess und Lernvorgang beteiligt sind und davon profitieren.

Kommt es zu einem Notfall, dann sind vor allem Zeitdruck, Informationsverlust, Unsicherheit und Stress dafür verantwortlich, dass Menschen falsch reagieren und weitere Fehler hinzukommen. Idealerweise sollte jeder jedoch die bestmögliche Leistung bringen und das Zusammenspiel aller Beteiligten als Team ergänzen.

Der Psychologe James Reason hat für das Problem der menschlichen Fehler ein systemorientiertes Modell beschrieben, das menschliches Versagen als unvermeidbar ansieht, aber das System, in erster Linie also die Bedingungen, unter denen der Mensch arbeitet, in den Vordergrund stellt. Dieses Käsescheibenmodell beschreibt, jeweils als eine Käsescheibe mit Löchern, Schutzschilde, Barrieren und Sicherungsmaßnahmen, die verhindern, dass ein einzelnes Ereignis zur Katastrophe wird. Nur wenn alle Käsescheiben so ausgerichtet sind, dass sich die Löcher direkt hintereinander befinden, das heißt, kein Anhalten möglich ist, kommt es zum schwerwiegenden Zwischenfall. Man kann sich nach diesem Modell also gut vorstellen, dass zum Beispiel die Anamneseerhebung, das Notfalltraining, eine regelmäßig gewartete Ausrüstung, oder der erstellte Notfallplan jeweils eine Käsescheibe und damit einen Schutzfaktor darstellen. Aktive Fehler der Beteiligten und latente Fehler des Systems können so nicht automatisch und unmittelbar zum Zusammenbruch des Systems führen (Abbildung).

Training als Team wichtig

Um dies zu erreichen, ist ein Training des gesamten Teams erforderlich. Das Crisis-Resource-Management basiert auf den Erfahrungen der Luft- und Schifffahrt, wo standardisierte Szenarien regelmäßig geübt werden. In die Medizin und primär Anästhesie wurde dieses Prinzip von David Gaba etwa um 1990 mit Szenarien im Operationssaal und der Notfallmedizin übertragen und modifiziert. Die Erfahrungen sind so gut, dass diese Lehrmethode vor allem im Medizinstudium immer größeren Raum einnimmt und modifiziert entsprechend den Lerninhalten eingesetzt wird. Dies ersetzt natürlich nicht das Erlernen der technischen Fertigkeiten (technical skills) wie zum Beispiel Venenpunktion, Reanimation, Atemwegsmanagement, sondern bietet den optimalen Rahmen, diese realitätsnah zu verbessern und anzuwenden und somit mit den notwendigen kommunikativen und organisatorischen Fertigkeiten (soft skills) zu kombinieren.

Leider, aber auch menschlich nachvollziehbar, werden Fehler in der Medizin nicht gerne öffentlich gemacht. Leider deswegen, da der Lerneffekt hieraus nicht nur bei dem Betreffenden selbst, sondern auch beim Zuhörer oder Leser eintritt. Mit anderen Worten, aus Fehlern lernt man selbst am meisten und man muss nicht jeden Fehler selbst machen, um daraus zu lernen. Auf dem 108. Deutschen Ärztetag wurde daher CIRSmedical als Teil der Qualitätssicherungsmaßnahmen der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ausdrücklich empfohlen. Es handelt sich um ein Berichts- und Lernsystem der deutschen Ärzteschaft für kritische Ereignisse und Fehler in der Medizin. Das anonyme Berichts- und Lernsystem („Critical Incident Reporting-System“) ermöglicht es, aus den kritischen Ereignissen und Fehlern anderer zu lernen.

Es ist fachdisziplinübergreifend, und das Online-Berichtsformular kann im Internet unter CIRSmedical.de heruntergeladen, ausgefüllt und anonym hinterlegt werden (Beispiel siehe Abbildung). Auch das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin, als gemeinsames Institut von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung, widmet sich der Patientensicherheit. Ein Glossar zu Definitionen und Begriffsbestimmungen ist im Internet unter www. forum-patientensicherheit.de abrufbar.

Die Autoren wollen Ihnen mit dieser neuen Notfallserie diese beschriebenen Ausbildungsstrategien näherbringen und mit gutem Beispiel vorangehen und die Lerninhalte mit Fallbeschreibungen verknüpfen. Vielleicht kann dies ja Ängste abbauen und den hohen Effekt dieses Vorgehens verdeutlichen und ist ein erster Schritt zum CIRSdental.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Monika DaubländerUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität MainzPoliklinik für Zahnärztliche ChirurgieAugustusplatz 255131 Mainzdaublaen@uni-mainz.de

INFO

§ 323c Unterlassene Hilfeleistung

Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.

INFO

Notfallserie ab 2012

Eine Notfallsituation ist eine besondere Herausforderung. Aber nicht jedes Praxisteam hat gemeinsam eine Beatmung geübt und für den Tag X geprobt. Aber nur das eingespielte Team kann schnell und richtig handeln. Die zm stellen in jeder geraden Ausgabe eine Notfallsituation vor, die im Praxisteam besprochen werden sollte, damit im Notfall jeder seinen Handgriff auch wirklich beherrscht. Denn Kompetenz rettet Leben.

INFO

Der Fall: Hypoglykämie

Die Einsatzmeldung lautet: Hypoglykämie. Die Fremdanamnese durch den Notarzt (bei der Ehefrau des Patienten) ergab, wie schon von der Leitstelle angegeben, den Verdacht auf Hypoglykämie.

Passend dazu zeigte sich der Zustand des Patienten: kaltschweißig, verwirrt und unruhig. Aufgrund schwieriger Venenverhältnisse, wurde eine Kapillarblut-Blutzucker(BZ)-Messung durchgeführt. Das Ergebnis ergab: 129 mg/dl. Die Aussage des Notarztes entgegen der gebotenen Symptomatik lautete daraufhin: „dann wird´s wohl was anderes sein!“ Der Patient wurde in den Rettungswagen gebracht. Der Rettungsarzt forderte, den BZ erneut zu messen und zuvor den Finger zu desinfizieren. Eine erneute Messung ergab: 28 mg/dl mit der Therapie durch NA 20 g Glucose i.v.

Kommentar:Die falsch hohe Blutzucker-Messung ist offenbar gar nicht so selten. Wichtig ist, dass der Finger des Patienten absolut gründlich gereinigt wird. Es kann leicht passieren, dass noch Glucosereste von Nahrung oder Traubenzuckerwasser am Finger sind, die das Ergebnis beeinflussen. Bei dringendem klinischem Verdacht auf Hypoglykämie und normalen BZ-Werten empfiehlt sich eine Kontrollmessung (oder einfach die Gabe von Glucose 40 Prozent – das birgt keine wesentliche Gefahr). (www.cirs-notfallmedizin.de/Hypoglykaemie_646.html).

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