Lückenöffnung statt Lückenschluss
Isabel Schneider, Claudio Jara, Carina Aschenbrenner, Torsten E. Reichert
Ein 15-jähriger Junge stellte sich 2006 beim niedergelassenen Kieferorthopäden vor. Extraoral fielen das konvexe Profil mit relativ markanter Nase sowie eine leichte Gesichtsasymmetrie bei skelettaler Klasse I (meso- fazial) auf (Abbildungen 1 und 2).
Diagnose und Behandlungsplanung
Der kieferorthopädische Befund ergab ein Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße aufgrund der vorliegenden relativen Mikrodontie. Dabei zeigten sich lückige, leicht protrudierte Fronten und weitere Lücken in beiden Kiefern (Abbildung 3).
Der Platzüberschuss lag im Oberkiefer (OK) bei +18,7 mm und im Unterkiefer (UK) bei +17,2 mm, zudem bestand eine Unterkieferschwenkung nach links bei einem Distalbiss mit Gleiten zwischen Zentrik und habitueller Interkuspidation. Der Zahn 13 war verlagert.
Die Weisheitszähne waren nicht angelegt (Abbildung 4). Hauptziel der Behandlung war es, die Korrektur der Lückenproblematik und eine stabile eckzahngeführte Okklusion zu erreichen, ohne das Gesichtsprofil des Patienten zu verschlechtern. Aus diesem Grund wurde nach Auswertung der diagnostischen Unterlagen (Modelle, FRS, OPG) eine selektive kieferorthopädische Öffnung der Lücken geplant, die implantologisch-prothetisch versorgt werden sollten.
Zur Visualisierung des angestrebten interdisziplinären Behandlungsziels wurde ein diagnostisches Set-up erstellt. Dazu wurden entsprechende Zähne auf einartikulierten Modellen in neuer Sollposition fixiert und die Lücken mit Wachszähnen geschlossen.
Kieferorthopädische Initialbehandlung
Zunächst erfolgte die kieferorthopädische Zahnbewegung mit Nivellieren und Ausformung der Zahnbögen und die selektive Lückenöffnung mittels einer Multibracket-Apparatur (Firma 3M-Unitek Typ Smart-Clip MBT Slot.022 inch).
Die intendierte Lückenöffnung wurde durch die Anwendung von NiTi-Druckfedern zwischen den ersten und den zweiten Prämolaren im II. und im IV. Quadranten für jeweils ein Implantat und im III. Quadranten für zwei Implantate eröffnet (Abbildungen 5 bis 7).
Die kieferorthopädische Feineinstellung der Zähne und der Okklusion erfolgte durch individualisierte Biegungen der Bögen und die Anwendung von elastischen Ketten.
Implantation
Mitte 2010 stellte sich der Patient in der Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie zur Planung der implantologischen und (provisorisch-)prothetischen Therapie mit aktuellem Orthopantomogramm auf Überweisung des niedergelassenen kieferorthopädischen Kollegen vor. Die kieferorthopädische Vorbehandlungszeit von zwei Jahren war dabei abgeschlossen.
Zur Herstellung der Bohrschablone wurden Alginatabdrücke angefertigt. Durch das zahntechnische Labor wurde ein Wax-up mit idealer Formgebung und Größe der neuen Prämolaren hergestellt. Aufgrund dieses Wax-ups in Idealgestaltung wurde ein minimaler Lückenüberschuss in regio 25 und 45 erkennbar.
Nach Rücksprache mit dem kieferorthopädischen Behandler konnte eine Feinadjustierung des Lückenüberschusses nach erfolgter Implantation durchgeführt werden (Abbildungen 8a und 8b). Dementsprechend wurde die Bohrschablone in Idealposition angefertigt und nicht mittig in den vorhandenen Zahnlücken. Die Implantatinsertion in Lokalanästhesie erfolgte unter zu Hilfenahme eines Orthopantomogramms mit eingegliederter Bohrschablone (Abbildungen 9 und 10).
Verwendet wurden Bone-Level-Implantate der Firma Straumann (Abbildung 11). Zur Sicherung der Implantatposition in Bezug auf die Wurzelstellung wurde postoperativ ein OPG angefertigt (Abbildungen 12 und 13).
Prothetische Behandlung
Nach einer Einheilzeit von vier Monaten wurden die Implantate durch eine einfache Kieferkammschnittführung freigelegt und die Gingivaformer eingebracht.
Am zehnten Tag nach Freilegung der Implantate erfolgte die Implantatabformung mit individuellen Löffeln und Polyäther. Es wurde ein Gesichtsbogen angelegt und eine interokklusale Registrierung vorgenommen, so dass nach einer Woche die provisorischen Kronen in Idealform und -größe eingegliedert werden konnten.
Der provisorisch versorgte Patient stellte sich anschließend bei seinem kieferorthopädischen Behandler zur Feinadjustierung des Lückenüberschusses in regio 25 sowie in regio 45 vor.
Nach acht Wochen zeigten sich ein absoluter Lückenschluss und eine perfekt ausgeformte Gingiva (Abbildung 14), so dass die provisorischen Kronen gegen den definitiven Zahnersatz aus individuellen Titanabutments und Zirkonkronen – nach erfolgter Rohbrandanprobe und Farbanpassung – ausgetauscht werden konnten.
Der Patient war zu diesem Zeitpunkt entbändert und trug, sowohl im Oberkiefer als auch im Unterkiefer, einen festsitzenden Retainer zur Langzeitstabilisierung (Abbildungen 15 bis 18).
Eine Kontrolle des Zahnersatzes erfolgte am 14. Tag nach Eingliederung des Zahnersatzes.
Diskussion
Ein Lückenschluss steht häufig der Lückenöffnung therapeutisch gegenüber. Zur Klärung, ob ein Lückenschluss oder eine Lückenöffnung im Rahmen einer kieferorthopädischen Therapie erfolgen soll, sind folgende Parameter zu berücksichtigen:
• Ausmaß und Lokalisation der Lücken
• Art der Dysgnathie und der Okklusion
• extraorale und intraorale ästhetische Faktoren
• parodontaler Zustand und Knochenangebot
• Motivation, Mundhygiene, ökonomische Verhältnisse
Aus implantologischer Sicht ist ein adäquates Platzangebot die Grundvoraussetzung für eine implantologische Versorgung. Dabei zu beachten sind der interimplantäre Abstand von drei Millimetern und der Abstand vom Implantat zum Nachbarzahn von 1,5 mm [Tarnow et al., 2007]. Auch der ausreichende Abstand zu den benachbarten Zahnwurzeln muss gewährleistet sein, da häufig das alleinige Kippen der Kronen bei kieferorthopädischer Lückenöffnung stattfindet. Eine radiologische Kontrolle muss präimplantologisch erfolgen, um die Wurzelspitzen gegebenenfalls kieferorthopädisch neu zu positionieren.
Diese Richtwerte muss der Kieferorthopäde bereits in seine Behandlungsplanung einarbeiten. Zudem kann die kieferorthopädische Lückenöffnung zu einem Papillenverlust führen, der eventuell später chirurgisch oder prothetisch kompensiert werden muss. Hier ist die Einschätzung des Gingivatyps durch den Chirurgen sinnvoll.
Ein weiterer limitierender Faktor kann das Alter des Patienten sein, denn eine zu frühe Implantation im Jugendalter kann gravierende ästhetische Folgen haben. Deshalb sollte mit der Implantatinsertion bis zum Abschluss des skelettalen Wachstums gewartet werden. Laut Kokich und Kinzer [Kokich et al., 2011] ist die alternative Methode, um den skelettalen und damit kraniofazialen Wachstumsabschluss zu diagnostizieren, die sequenzielle zephalometrische Radiografie (Überlagerung von Fernröntgenbildern, um die Position bestimmter kieferorthopädischer Punkte im FRS zu vergleichen).
Dieses Verfahren ist für spezifische Anomalien vorteilhaft [Kokich, 2001; Kokich, 2004]. Die Wachstumskontrolle mittels Handröntgen ist auch heutzutage eine zuverlässige Methode. Eine Studie von Fudalej et al. hat nach einer Untersuchung von 150 Männern und Frauen ergeben, dass das Gesichtswachstum bei Frauen im Durchschnitt mit dem 17. Lebensjahr und bei Männern mit dem 21. Lebensjahr endet. Zur Handröntgenaufnahme sollten klinische Aspekte hinzugefügt werden, um den Wachstumsabschluss festzulegen [Fudalej et al., 2007].
Im Fall dieses Patienten hätte ein vollständiger Lückenschluss bedeutet, dass das Lippenprofil wegen einer fast unvermeidbaren Retrusion der Fronten stark abflacht. Dies hätte die faziale Harmonie negativ beeinflusst. Als funktionell und ästhetisch optimale Behandlungsalternative wurde eine selektive Lückenöffnung mit prothetischer Versorgung gewählt.
Da eine Unterkieferschwenkung nach links vorlag, wurde eine asymmetrische Lückenöffnung für ein Implantat mit Krone im Oberkiefer links und auch im Unterkiefer rechts geplant. Im linken Unterkiefer wurde eine größere Lücke für zwei Implantate mit jeweils zwei Einzelkronen geöffnet.
Als okklusales Ergebnis entstand eine korrekt funktionierende, fronteckzahngeführte Okklusion ohne posteriore Interferenzen, Übereinstimmung der Mittellinien, Neutralbiss im Seitenzahnbereich und eine therapeutisch stabile Prämolarenbreite rechts sowie eine Distalrelation im Molarenbereich links. Die Ziele, sowohl faziale als auch dental ästhetische Verhältnisse zu erhalten beziehungsweise zu verbessern, wurden ebenfalls erreicht.
Schlussbemerkung
Abschließend bleibt festzustellen, dass nur durch eine enge Absprache zwischen kieferorthopädischem, chirurgischem und prothetischem Behandlungspartner eine erfolgreiche und ästhetisch ansprechende Versorgung des Patienten gewährleistet wird.
Dr. Isabel SchneiderDr. Carina AschenbrennerProf. Dr. Dr. Torsten E. ReichertKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirugieFranz-Josef-Strauß-Allee 1193053 Regensburgisabel.braeuer@ukr.deCarina.Aschenbrenner@klinik.uni-regensburg.de
Dr. Claudio JaraKieferorthopädische GemeinschaftspraxisDr. Jara Dr. RiegerSteinergasse 1894315 Straubingclaudiojara@aol.com