Individualisierte Medizin bedeutet interdisziplinäre Prävention
Mit rund 3 400 Zahnärzten, davon 700 Studierende, wurden auch in diesem Jahr trotz der schwierigen Anreisebedingungen nahezu alle gebuchten Vortrags- und Seminarräume voll. Die Entscheidung, welche Fortbildungsveranstaltung besucht werden sollte, fiel bei dem immensen Parallelangebot nicht leicht. Auch hier kann nur ein Auszug aus einigen Bereichen gegeben werden. Das Thema Prävention zog sich durch alle zahnmedizinischen Disziplinen.
„Wir haben uns in diesem Jahr der anspruchsvollen Thematik ’Individualisierte präventionsorientierte Therapiekonzepte’ gestellt und haben dabei kein Fach und kein Thema ausgelassen, von der Karies und Parodontitis über die Periimplantitis bis zum Plattenepithelkarzinom,“ sagte die DGZMK-Präsidentin Prof. Dr. Bärbel Kahl-Nieke in ihren den Kongress einleitenden Worten.
Wie mit einfachen Mitteln Zähne in ihrer Außenwirkung verändert werden können, vermittelte Wolfgang Boer aus Euskirchen. Er zeigte, wie einfach ein schwarzes Dreieck „gefüllt“ werden kann. Sein Tipp: „Arbeiten sie von palatinal und nehmen Sie möglichst dunkle Massen, damit die Zwischenräume bloß nicht zu hell werden!“ Er postulierte: „Finger weg von den Randleisten, damit wird sonst automatisch die Zahnform verändert, sondern Sie müssen die Randleisten verschieben!“ Bei einer Ausbreitung eines Diastemas bis 1 mm je Zahn empfiehlt er, nur mit Schmelzmasse zu arbeiten. Sollte mehr als 1 mm „angesetzt“ werden, sei unbedingt erforderlich, Dentinmasse zu verwenden und diese leicht vestibulär auslaufen zu lassen, um dem natürlichen Schmelz seine Opazität zu nehmen, damit die Verbreiterung nicht streifig wird. Noch ein Tipp aus seiner Praxis für die Reposition eines Kronenfragments nach einem Trauma: „Das Fragment muss so lange in Wasser gelegt werden, wie es nach dem Unfall trocken lag. Erst dann erzielen Sie eine gleichmäßige Farbanpassung.“ Unbedingt erforderlich, auch bei kleinen Kronenfragmenten, sei die Verwendung des Kofferdams. „Nach einem Trauma ist die Blutungsneigung immer stark erhöht. Manchmal reicht schon der Luftbläser um einen Blutschwall auszulösen. Das können Sie in dieser Situation gar nicht brauchen!“
Wie man mit der Schmerzausschaltung besonders bei Angstpatienten umgeht, erklärte Prof. Dr. Dr. Monika Daubländer, Mainz, in ihrem Schmerzseminar. „Wichtig ist zu erkennen, welche Form der Phobie Sie vor sich haben.“ Bereits vor der Narkoseaufklärung sollte die Verwendung eines gesonderten Fragebogens (hierarchischer Angstfragebogen nach Jöhren) erfolgen. In jeder Praxis sollte ein für diese Patienten erforderliches praxistaugliches Verfahren etabliert sein. Sie erinnerte: „Schaffen Sie eine geeignete Behandlungsathmosphäre und denken Sie daran, die Wahrnehmung eines Phobikers oder eines unter besonderem Stress stehenden Menschen ist eine völlig andere als Ihre.“ Ihr Fazit: „Wir befinden uns in einem Paradigmenwechsel: Oft reicht schon die Anxiolyse anstatt einer bislang üblichen Sedierung!“
„Fragen Sie nach dem Rauchverhalten Ihrer Patienten“, riet Prof. Dr. Anton Sculean, Bern, denn Patienten, die etwa zehn Zigaretten/die konsumieren oder auch früher mehrere Jahre lang geraucht haben, die haben einfach mehr Knochenverlust als Nichtraucher, sagte er, „sie sind einfach stärker anfällig für eine Periimplantitis“. Er rät, „schließen Sie immer eine Parodontalbehandlung ab, implantieren Sie erst dann.“
Prävention statt Theraie – das war hier die Frage
Nachdem zwei Tage lang in allen Hörsälen aus allen zahnmedizinischen Disziplinen das Thema Prävention erörtert worden war, wollten es die Veranstalter dann wirklich wissen: Als krönendes Abschlussfeuerwerk hatten sie hierzu vier Kapazitäten verschiedener Fachdisziplinen aufs Podium geholt und den langjährigen Wissenschafts-chef des ZDF, Dr. Joachim Bublath, als Moderator verpflichtet. Und alles zu der Frage: Könnte wir Therapie durch Prävention ersetzen?
Für Prof. Dr. Roland Frankenberger, Marburg, schien die Antwort ziemlich klar: „Ja, Karies zu vermeiden, das geht, wie viele Studien und Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen und auch Erwachsenen zeigen, [...] wenn da die Schwachstellen nicht wären!“ Damit verwies er auf die Risikogruppen, die als soziale Randgruppen so gut wie nie erfasst werden, oder einfach allein wegen ihrer umfangreichen systemischen Vorerkrankung „kaum zu handeln sind“.
Warum man im Fall der Parodontopathien durch eine regelmäßige Oralprophylaxe eine Erkrankung nicht immer erfolgreich verhindern kann, erklärte Prof. Dr. Jörg Meyle, Gießen, dadurch, dass die Erkrankung über lange Zeit unentdeckt bleibt, da sie keinerlei Schmerzen verursacht oder sonstige Symptome auftreten. „Kommt der Patient aber einmal in eine Krisensituation, einen schwerwiegenden life-event wie Scheidung, Tod des Partners, beruflichen Stress oder mehr und damit in eine veränderte Immunsituation, dann schlägt die Erkrankung durch.“ Da aber kein Leidensdruck bei den Patienten auftritt, setzt Meyle auf eine unbedingt erforderliche regelmäßige Untersuchung, den sogenannten Screening-Index. „So kann man durch vorzeitige Erhebung der Taschentiefen viele schwere Parodontalerkrankungen rechtzeitig ’in den Griff’ bekommen.“
„Wir können heute schon anhand einer nicht ganz korrekten Zahnstellung eine spätere Parodontopathieproblematik vorhersagen!“ Damit trat Prof. Dr. Heike Korbmacher- Steiner, Marburg, nicht nur in der Diskussion, sondern auch in ihrem Vortrag in den Ring. „Denn da, wo die Zähne ’schwierig’ stehen, kann nicht richtig gereinigt werden, und es siedeln sich Bakterien an.“ Sie machte deutlich, wie wichtig es ist, bereits im gesunden Gebiss auch auf diese Dinge zu achten, um schon frühzeitig einem späteren Zahnverlust entgegenzuwirken. Werden durch eine Retraktion des Parodonts schwarze Dreiecke sichtbar, ist das nicht nur unschön, sondern es kann auch zu weiterem Knochenverlust kommen. Sie erklärte, dass in so einem Fall durch eine leichte kieferorthopädische Intervention die Zähne intrudiert werden können, damit sie dann wieder sagittal stehen und der Knochen auf diese Weise regenerieren kann. „Denn es gibt nichts Besseres als den körpereigenen Knochen, körpereigene Zähne, Zahnfleisch und dann noch in einer guten Funktion. Das sind eigentlich unsere Therapieziele“, fügte die Kieferorthopädin hinzu.
Aber auch in der Krebsvorsorge sei der Zahnarzt als lebenswichtiger und vor allem lebenslanger Prophylaxefaktor gefragt. Das machte Prof. Dr. Dr. Torsten Reichert, Tübingen, deutlich. „Durch die Früherkennung der sogenannten malignen Mundschleimhauterkrankungen kann man eben durchaus verhindern, dass es zu Mundhöhlenkarzinomen kommt.“ Da viele Frühstadien durch eine rechtzeitige Intervention durchaus geheilt werden können, gilt die Mundinspektion als lebensrettende Maßnahme (siehe dazu das Video „Mundinspektion in 90 Sekunden“ auf zm-online.de). Reichert machte deutlich, dass hier die Prävention noch sehr im Argen liegt, „denn ein Viertel aller oralen Karzinomerkrankungen wird erst im Stadium vier entdeckt“.
Durch gezielte Fragen an die Diskutanten arbeitete Dr. Bublath als Fazit heraus, dass es unbedingt vonnöten sei, Interdisziplinarität zu leben. „Auch der Allgemeinmediziner ist gefragt und der Internist, alle haben unmittelbar mit der Zahnmedizin und ihren einzelnen Disziplinen zu tun“, hieß es in der Diskussion. Dass aber nicht alle Wünsche sofort und zielführend umsetzbar sind, fasste Bublath wie folgt zusammen: „Ein Manko bei all diesen präventiven Maßnahmen ist immer noch die mangelnde Patientendisziplin und die Tatsache, dass die Krankenkassen offenbar nicht alle Maßnahmen zahlen, die unbedingt erforderlich wären.“ Auch bemängelte er, dass es zurzeit der demografischen Veränderungen immer noch keine befriedigenden Konzepte gebe, auch wie man bei Senioren mit dem Thema Prophylaxe umgeht.
Frankenberger brachte es auf den Punkt: „Für mich ist das kein Problem der Zahnmedizin, für mich ist das ein Problem der Medizin im Allgemeinen. Sie kriegen als Arzt, wenn Sie irgendwo reinschneiden, ein besseres Honorar, als wenn Sie erst einmal abwarten. Die aggressive Medizin ist heute immer noch besser bezahlt als die sanfte Medizin. Das ist in der Zahnmedizin genauso.“
Individualisierte Therapie ist der richtige Weg
Die Themenwahl aller Vorträge und auch die Abschlussdiskussion sprach vielen Teilnehmern aus dem Herzen. Haben doch alle Informationen, seien sie alt oder neu gewesen, wieder die Motivation mit dem Patienten „gemeinsam zu arbeiten“ geschürt und jedem Teilnehmer erneut bestätigt, dass seine Berufswahl die richtige war.
„Die bei mir angekommene Resonanz auf diesen Kongress war durchweg positiv. Alle sind mitgegangen bei dieser individualisierten Herangehensweise und dafür möchte ich allen Beteiligten meinen Dank aussprechen“, resümierte die DGZMK-Präsidentin im Nachgang des zweitätigen Kongresses.