Myofunktionelle Störungen interdisziplinär behandeln
„Wie gestaltet sich der durchschnittliche Verlauf einer Therapie in Bezug auf die Anzahl der Sitzungen?“ „Welche Übungen können die Patienten zu Hause machen und welche therapeutischen Ergebnisse sind letztendlich zu erwarten?“ Diese und viele andere Fragen haben Zahnmediziner zum Thema Sprach- und Myofunktionsstörungen, wie sich aus der Resonanz zum damaligen Beitrag ergeben hat. Ganz besonders interessieren Zahnärzte, Kieferorthopäden und Kinderärzte aber die spezifischen diagnostischen Parameter. Denn sie sind diejenigen, die den Auftrag haben, die Diagnose zu erstellen und den Patienten dann an den entsprechenden Therapeuten zu überweisen.
Der AuMyo-Check
Schnelltest und Diagnosebogen
Das erste Instrument zum Test ist die AuMyo-Checkliste, mit der der Zahnarzt die Aussprache der Patienten testen kann. So müssen Kinder zum Beispiel die Sätze wie „Tu der Tante Tee in die tiefe Tasse“ oder „Das Wassertaxi fährt ganz schnell“ nachsprechen. Im nächsten Schritt bewertet der Zahnarzt das orofaziale Gefüge. Hierbei geben spezifische Merkmale, etwa ein fehlender Zahnkontakt in Schlussbissstellung, ein hoher schmaler Gaumen oder eine Inaktivität des Kaumuskels Aufschluss darüber, ob Myofunktionsstörungen vorliegen.
Bei einem positiven Befund kann der Behandler dann anhand des Diagnosebogens die Spontansprache weiter analysieren. Dabei benennen Kinder spezifische Bilder wie „Nudeln mit Soße“ oder „Sportschuhe in der Schachtel“ und müssen bestimmte Sätze nachsprechen. Störungen in der Lautverbindungsbildung und das orofaziale System werden in diesem Zusammenhang anhand bestimmter Parameter bewertet. Sollten durch die Befundung therapeutische Maßnahmen indiziert sein, wird der zahnärztliche Befundbogen dann dem Patienten mit der Empfehlung, den Logopäden aufzusuchen, mitgegeben.
Der Check ist beim ProLog Verlag erhältlich und kostet 19,99 Euro. Die ISBN lautet: 9783956770371
Eine Antwort auf diese Fragen sollen der entwickelte AuMyo-Check (siehe Kasten) und der dazugehörige Diagnosebogen geben. Beide richten sich gleichermaßen an die Zahnmediziner und an die Therapeuten, damit der interdisziplinäre Gedanke fortgeführt und die „verzahnte“ Arbeit am Patienten auf qualitativ hohem Niveau Verbreitung findet. Mit diesem Test zur Beurteilung der Aussprache und zur Diagnose von Muskeldysbalancen im Gesicht, vor allem der Zungen- und der Lippenmuskulatur, können Zahnmediziner innerhalb von zwei Minuten erkennen, ob die Durchführung des umfangreicheren Bogens nötig ist. Dieser kann dann auch von einer eingearbeiteten zahnmedizinischen Fachangestellten bearbeitet werden.
Abklärung in knapp zehn Minuten
Der Befundbogen beschäftigt sich mit der Diagnostik der Aussprache und des orofazialen Systems. Die Durchführung dauert acht bis zehn Minuten. Dieser zeitliche Aufwand scheint realisierbar, da die Fachdisziplinen der Zahnärzte, der Kieferorthopäden und der Kinderärzte täglich meist mehrere Dutzend Patienten sehen, beraten und behandeln.
Was ist eine Myofunktionsstörung?
Gemäß des Deutschen Bundesverbands für Logopädie e.V. ist eine Myofunktionsstörung eine Störung der Muskulatur im Mund-Gesichts-Bereich. Eine sogenannte funktionelle orofaziale Störung betrifft die Bewegungs- und Koordinationsabläufe sowie das muskuläre Gleichgewicht aller am Schlucken beteiligten Strukturen. Ursächlich dafür ist häufig eine isolierte Fehlfunktion der Wangen-, Lippen- und Zungenmuskulatur .Mögliche Folgen einer nicht behandelten Myofunktionsstörung können zum Beispiel eine unphysiologische Kau-, Beiß- und Schluckentwicklung sein. Daraus resultieren dann oft Zahn- und Kieferfehlstellungen.Auch eine deutliche Aussprachstörung, die sich vorwiegend durch Zischlaute wie zum Beispiel „sch“ und „s“ äußert, kann aus einer Myofunktionsstörung resultieren.
Bei 80 Prozent aller auffälligen, behandlungsbedürftigen Patienten sind beide Bereiche (Aussprache und orofaziales System) betroffen und die Störungen miteinander vergesellschaftet. Sind die primären Artikulationsorgane Zunge (Fall 3, Abbildungen 9 bis 12), Kiefer und Lippen (Fall 1, Abbildungen 1 bis 4) nicht im Gleichgewicht und von pathologischen Bewegungsmustern oder Hypotonien betroffen (Fall 2, Abbildungen 5 bis 8), kann die Aussprache von leichten Lautabweichungen bis hin zu schwersten Lautabweichungen und folglich auch von Ersetzungsprozessen geprägt sein, die zur schweren Sprachunverständlichkeit führen können. Die Diagnosestellung formuliert die Indikation für eine notwendige Verordnung.
Zahnärztliche Verordnung von Myofunktionstherapien
Die Kassenzahnärztliche Vereinigung Nordrhein beispielsweise weist im Leitfaden zur Verordnung in der vertragsärztlichen Praxis darauf hin, dass ein Vertragszahnarzt, der sprachtherapeutische und physiotherapeutische Maßnahmen im Rahmen der Zahnheilkunde für indiziert hält, diese selbst zu verordnen hat und nicht anderen Fachdisziplinen zuweisen darf.Die Verordnung von reinen Myofunktionstherapien hingegen ist laut Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung (KZBV) nicht generell Bestandteil der vertragszahnärztlichen Versorgung, kann aber in Einzelfallentscheidungen von den Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) übernommen werden. Der Verordner sollte auf dem Kassenrezept und auf der Privatverordnung grundsätzlich folgende Angaben vermerken: die genaue Diagnose, die Anzahl der Sitzungen, und die Therapiedauer. Beispiel: „10 Sitzungen logopädische Therapie à 45 Minuten wegen Aussprachestörung und myofunktioneller Störung“.
Karla Passon
Bergische Landstr. 42, 51375 Leverkusen
karla.passon@t-online.de
Die Autorin ist Diplom-Sprachheilpädagogin und Myofunktionstherapeutin und seit 19 Jahren in eigener Praxis in Leverkusen niedergelassen. Ihr Hauptschwerpunkt ist die Myofunktionstherapie, die sie in enger Zusammenarbeit mit Zahnärzten, Kieferorthopäden und Kinderärzten durchführt.