Dürfen Ärzte vor Patienten weinen?
Ärzte haben beruflich regelmäßig mit dem Leiden ihrer Patienten und Angehörigen zu tun. Gute und schlechte Nachrichten zu überbringen, ist Teil ihrer täglichen Arbeit. Dies kann von starken Emotionen – seitens der Patienten wie der Ärzte – begleitet werden. Darüber hinaus erleben Mediziner in ihrem Job starke positive Gefühle, wenn sie eine Behandlung erfolgreich durchführen. Aber eben auch Trauer und Frustration, wenn sie dabei scheitern. Diese Gefühle können zur einer spezifischen physischen, emotionalen Reaktion führen: weinen. Ist es unethisch, in Gegenwart von einem Patienten zu weinen? Unprofessionell? Oder ein Zeichen von Empathie und Engagement?
Befragt wurden 776 niederländische Ärzte, darunter Hausärzte, Ärzte in der Diagnostik, Chirurgen und Psychologen, Gynäkologen und Kinderärzte. Die Mediziner sollten dazu einen Online-Fragebogen ausfüllen. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass mehr als die Hälfte der Ärztinnen und ein Viertel der Ärzte im vergangenen Jahr mindestens einmal auf der Arbeit geweint haben. Ein Viertel während eines Patientenkontakts.
Was aber halten Ärzte davon, wenn sie oder Kollegen am Arbeitsplatz heulen? Letztlich sind sie uneins darüber, wie ihre Emotionen am Arbeitsplatz und in Anwesenheit des Patienten zu bewerten sind. So finden einige, die Ärzte sollten ihre Emotionen als ein Zeichen des Mitgefühls ruhig zulassen. Andere halten es für eine unangemessene Belastung für den Patienten, sich so zu zeigen.
Die meisten Ärzte finden jedoch nicht, dass ein Arzt, der in Gegenwart des Patienten weint, als Arzt ungeeignet ist. Sie halten es weder für unethisch noch für unprofessionell oder für lächerlich. Ebenso wenig denken sie, dass Weinen das Risiko erhöht, im Job Fehler zu machen. Weinen wird also nicht per se als negatives Verhalten bewertet. Viele Ärzte ziehen jedoch dem einfühlsamen Weinen in Gegenwart von Patienten eine andere Reaktion vor.
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Heulsuse? Was die Kollegen denken
Die Hälfte der Ärzte gab an, es sei okay, bei der Arbeit zu weinen. Doch nicht jeder Grund wird gleichermaßen akzeptiert. Weinen wegen persönlicher Umstände oder wegen der schlechten Gesundheitssituation eines Patienten halten mehr als die Hälfte der Ärzte für akzeptabel. Sie reagieren in der Regel verständnisvoll, wenn sie erfahren, dass Kollegen deswegen in Tränen ausbrechen.
Trotz dieser mitfühlenden Reaktionen hat die Mehrheit der Ärzte aber ein ungutes Gefühl und ist beunruhigt und aufgewühlt, nachdem sie geweint hat. Die Betroffenen bewerten ihr eigenes Verhalten als Mangel an Professionalität und als Schwäche.
Gleichwohl finden es mehr als die Hälfte der befragten Ärzte in Ordnung, wenn ein Kollege manchmal in Anwesenheit eines Patienten heult. Sie bewerten diese Reaktion als ein Zeichen von Engagement und denken nicht, dass diese Reaktion einem angemessenen ärztlichen Verhalten im Wege steht. Sie können sich vorstellen, dass die rührende Geschichte und das Leiden des Patienten dazu führt, dass man weint. Dasselbe gilt, wenn die Situation des Patienten sie an ein persönliches Erlebnis erinnert. Im Unterschied dazu werden persönliche Umstände oder die tägliche Arbeit für inakzeptabele Begründungen gehalten.
Ein Großteil gab an, aus Mitgefühl für die Familie / Angehörige zu weinen. Andere aus Hilflosigkeit, weil für sie die Regeln und Gesetze in der Gesundheitsversorgung einer maximalen Patientenversorgung entgegen stehen. Schließlich war oft ein Mix aus hohem Druck und einer schwierigen Situation zu Hause der Grund zu weinen. Die Mehrheit der Befragten glaubt, dass Ärzte unter allen Umständen ihre Gefühle unter Kontrolle haben müssen.
Das Finden der richtigen Balance zwischen Empathie, Engagement und Professionalität scheint aber manchmal schwierig zu sein. Wenn man geweint hat, wird diese Reaktion oft von gemischten Gefühlen begleitet. Die meisten sind typisch: Frustration, Gereiztheit, Schwäche und Scham. Auch das Vertrauen seitens der Kollegen und des Patienten, das Gefühl der Verletzlichkeit sowie Angst vor negativen Reaktionen spielen eine Rolle. Eine häufig zitierte Antwort ist daher, dass das Weinen keine bewusste Entscheidung war, sondern dass es einfach passierte: „Es war, wie es war.“
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Patienten deuten Tränen als Empathie
Mehr als die Hälfte der Ärzte glauben nicht, dass der Patient das Weinen als Stress deutet, sondern sie nehmen eher an, dass es als Zeichen der Empathie wahrgenommen wird. Eine Minderheit der Ärzte denkt, der Patient findet das Verhalten unangemessen, unprofessionell oder hält es für ein Zeichen von Schwäche.
Aber was denken Patienten wirklich? Mehr als die Hälfte halten Weinen für die ärztliche Arbeit für angemessen und 41 Prozent halten einen weinenden Arztes auch für einen guten Arzt, weil er dadurch seine Empathie und sein Mitgefühl unter Beweis stellt.
Studenten zweifeln an der Eignung des Arztes
Bei einigen Fragen gaben teilnehmende Studierende interessanterweise ganz andere Antworten: Sie zeigen nicht gerne ihre Trauer am Arbeitsplatz aus Angst vor einer negativen Bewertung. Die Mehrheit der Studierenden denkt indes, dass Tränen wichtig sein können für den Kontakt zwischen Patient und Arzt. Das Gros der Ärzte teilt diese Ansicht nicht. Bemerkenswert ist, dass fast die Hälfte der Studenten denkt, ein Arzt sei für den Job ungeeignet, wenn er vor dem Patienten weint.
Ein weiterer markanter Unterschied ist, dass nur 36 Prozent der Studenten glauben, an der Uni müsse das Thema stärker aufgegriffen werden. Dagegen wünschen sich fast 90 Prozent der Ärzte, die Ausbildung hätte den Gefühlen des Arztes in Bezug auf den Patienten mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser große Unterschied erklärt sich eventuell dadurch, dass der Umgang mit den eigenen Emotionen heute im Studium größere Beachtung findet. Es könnte freilich auch sein, dass die Studierenden nicht in der Lage waren, zu beurteilen, was sie im Lauf ihrer Karriere erwartet. Und möglicherweise gibt es eine Kluft zwischen den Generationen.
Fazit:
Zusammenfassend kann man sagen, dass Weinen eine ziemlich häufige emotionale Reaktion von Ärzten ist. Wenn es geht, versuchen Ärzte jedoch, das Weinen in Gegenwart von Patienten zu vermeiden. Dahinter steht die Erwartung, dass ein Arzt unter allen Umständen seine Gefühle unter Kontrolle haben muss. Daher ist das Verhalten oft von Ambivalenzen begleitet. Oft jedoch kann man auf das Verständnis von Kollegen Patienten zählen.
Kim Janssens, Chloë Sweerts, Ad Vingerhoets: Schaamte over tranen, in: Arts Patient, Publicatie Nr. 50 – 10 december 2015, 2442–2444