Pflegebedürftige in der Zahnmedizin an Deutschen Hochschulen

Die studentische Ausbildung muss schnell besser werden

Christoph Benz
,
Ina Nitschke
Deutschland hat eine der am stärksten alternden Gesellschaften in der Welt. Dies stellt insbesondere auch die Heilberufe vor besondere Herausforderungen. Aufgabe der medizinischen Fakultäten muss es sein, die Studierenden in Theorie und Praxis mit Senioren, der Pflege und dem Pflegealltag vertraut zu machen. In der Zahnmedizin ist dies bislang überwiegend nicht der Fall.

Am DGAZ-Tag der Lehre, der Hochschultag der Deutschen Gesellschaft für Alterszahn-medizin (DGAZ), wurde zur Aufgabe der Fachgesellschaft gemacht, Mindeststandards der universitären Ausbildung für das Fach Seniorenzahnmedizin zu definieren, wobei neben der Versorgung von Gebrechlichen die zahnmedizinische Betreuung von ambulant und stationär Pflegebedürftigen im Vordergrund steht.

Was kommt auf uns zu?

In den kommenden Jahren werden in Deutschland zunehmend mehr Menschen aus geburtenstarken Jahrgängen in ein Alter kommen, in dem Gebrechlichkeit bis hin zur Pflegebedürftigkeit wahrscheinlicher ist. Schon heute sind fast 40 % der 85- bis 89-Jährigen und 64 % der 90-Jährigen und Älteren pflegebedürftig. Entsprechend gehen Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamts von einem Anstieg der Pflegebedürftigkeit bis 2030 um 35 % aus. Die starke Zunahme betrifft vor allem betagte Menschen: So wird sich die Zahl Pflegebedürftiger in der Altersgruppe 90+ verdoppeln. Mit dem Pflegestärkungsgesetz 2 erfolgte zum 1. Januar 2017 die Umstellung von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade. Nach ersten Schätzungen erhöht dies die Zahl erfasster Pflegebedürftiger um weitere 500.000 Menschen. Eine Zahnarztpraxis sollte somit heute schon durchschnittlich 81 Menschen mit Pflegegrad betreuen.

Auf der zahnmedizinischen Seite zeigt uns die fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) aus dem Jahr 2016, dass auch im hohen Alter der Trend zu immer mehr erhaltenen Zähnen geht. Von den 77,4 %, die in der Gruppe der älteren Senioren (75 bis 100 Jahre) nicht pflegebedürftig sind, waren nur 20,8 % vollständig zahnlos. Die anderen haben im Durchschnitt noch 18 natürliche Zähne. Diese Daten entsprechen ziemlich genau denen der jüngeren Senioren (65 bis 74 Jahre) aus dem Jahr 2005 (DMS IV). Bei den Pflegebedürftigen der DMS V sind immerhin 46,3 % nicht zahnlos und besitzen im Durchschnitt noch 12,1 natürliche Zähne, die von den Pflegebedürftigen oft nicht allein in ausreichendem Maß gepflegt werden können.

Die Zahnmedizin ist also gefordert, immer mehr, insbesondere auch hochaltrige Pflegebedürftige zu betreuen, die zudem komplexe zahnmedizinische und allgemeinmedizinische Probleme präsentieren.

Wie fit ist unser Nachwuchs?

Eher nicht so fit. 76,3 % der Zahnmedizinstudierenden fühlen sich in der Senioren-zahnmedizin nicht gut ausgebildet. Diese Information stammt aus der aktuellen Generation-Y-Studie des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ), und sie ist mit einer Aus-schöpfungsquote von 69,3 % aller Studierenden sehr verlässlich. Nur 5 % der Studie-renden können sich später ein besonderes Engagement in der Seniorenzahnmedizin vorstellen. In der Prognose lägen wir damit bei 1.620 Pflegebedürftigen pro engagierter Praxis, ein völlig unrealistisch hoher Wert. Wenn sich hier nichts ändert, steht zu befürchten, dass die hohen Erwartungen, die in den Verhandlungen mit dem Gesetzgeber und den gesetzlichen Krankenkassen geweckt wurden, nicht erfüllt werden können. Damit droht ein Glaubwürdigkeitsschaden, der die ganze Zahnmedizin träfe. Wer die Zahnmedizin für Pflegebedürftige, eine anerkannte vulnerable Patientengruppe, nicht schultert, wird wohl auch wenig Verständnis für teure Endo oder Spitzen-Prothetik bekommen.

Status praesens an der Uni

Für die Analyse der bestehenden Probleme und Impulse zur Verbesserung braucht es ein kompetentes Gremium. Die Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin bat deshalb für den 12. Mai 2017 alle interessierten Hochschuldozentinnen und -dozenten zum Hochschultag „Seniorenzahnmedizin in der Lehre“ nach Berlin. In Deutschland besteht im Gegensatz zur Schweiz keine Verpflichtung das Fach Seniorenzahnmedizin zu lehren und im Staatsexamen zu prüfen. Gegenüber dem schweizerischen Leuchtturm-Projekt der Universität Zürich, das zurzeit in Einzelaspekten übertragbar wäre, konnte Deutschland zwar viel Idealismus am DGAZ-Tag der Lehre präsentieren, aber leider auch viel Frust:

  • „Die zahnmedizinischen Abteilungen unterstützen uns nicht.“

  • „Wenn unsere Veranstaltungen freiwillig sind, kommt keiner.“

  • „Wenn ich mal eine Vorlesungsstunde bekomme, dann vor Weihnachten, wo eh keiner da ist.“

  • „Kollegenspruch: Ist ja süß, wenn Du Alterszahnmedizin machst, aber wichtig ist das nicht!“

  • „Die Studenten haben große Berührungsängste gegenüber Pflegebedürftigen.“

  • „Altersmedizinische Grundlagen fehlen den Studierenden.“

  • „Die Heime lassen uns nicht rein.“

  • „Das Studium ist ohnehin schon mit Themen überladen.“

  • „Pflegebedürftige spielen später keine Rolle in der Praxis!“

Der Hochschultag war sich einig, dass die Pflegebedürftigen in Deutschland schnell den Stellenwert in der Zahnmedizin erhalten müssen, und zwar in einem Land mit einer der dramatischsten Demografien in der Welt.

Was soll die Uni bieten?

Zahnmedizin für Pflegebedürftige als Teil der Seniorenzahnmedizin ist längst vom „nice to have“ zum „must have“ geworden. Dies kommt auch aktuell in der Diskussion um die neue Approbationsordnung zum Ausdruck. Die Teilnehmer des Hochschultags definieren den Mindeststandard, den eine Universität heute in der Seniorenzahnmedizin bieten soll, anhand von vier Punkten:

  • Der organisatorische Aufwand für eine theoretische und praktische Ausbildung im Fach Seniorenzahnmedizin ist hoch und erfordert mindestens eine zahnärztliche Vollzeitkraft. Wie ein solches Curriculum organisiert ist – abteilungsübergreifend, von der Prothetik oder der Zahnerhaltung –, wird heute bereits an verschiedenen Universitäten unterschiedlich gehandhabt und erscheint sekundär. Jede Universität sollte einen Zahnmediziner benennen, der Fachkompetenz auf dem Gebiet der Seniorenzahnmedizin hat, egal aus welchem Fachgebiet dieser ursprünglich kommt. Diesem sollte die Verantwortung übertragen werden, die Ausbildung theoretisch multidisziplinär auszugestalten sowie die aufsuchende Behandlung in Pflegeeinrichtungen und bei ambulant Pflegebedürftigen für die Studierende zu organisieren.

  • Theoretische Inhalte sollen in einer einsemestrigen Ringvorlesung im 8. oder im 9. Fachsemester vermittelt werden, die zahnmedizinische mit medizinischen und pflegerischen Themen verbindet – Gerontologie, Geriatrie, Gerontopsychiatrie, Pflege. 

  • Praktische Inhalte: Übergreifende Aspekte ohne Patientenkontakt werden in einem eintägigen Block unterrichtet – z. B. Umgang mit mobilem Instrumentarium, Alterseinschränkungen z. B. im Altersanzug im Rahmen eines Gero-Parcours selbst erleben. Ein direkter Patientenkontakt ist nicht immer einfach zu organisieren, aber z. B. die Universitäten Berlin und Leipzig gehen einmalig im Studium bzw. in jedem klinischen Semester in Pflegeeinrichtungen mit den Studierenden. Vorbildhaft erscheint z. B. das Konzept der Universität Köln. In Absprache mit einer niedergelassenen Zahnärztin, die eine Pflegeeinrichtung betreut, besuchen die Studierenden die Bewohner und reinigen regelmäßig deren Zähne mit Zahn- und Interdentalbürsten. Dabei besteht zwar keine zahnärztliche Behandlungssituation im eigentlichen Sinn, jedoch lassen sich auf diese Weise Vorbehalte und Berührungsängste leichter abbauen. Aus einer vergleichenden Studie zweier Unterrichtsangebote ist bekannt, dass die Studierenden den praktischen, zahnärztlichen Kontakt zu den Pflegebedürftigen sehr schätzen.

  • Das Curriculum sollte externe zahnmedizinische Praktiker in die Lehre einbinden, die in Pflegeeinrichtungen kontinuierlich tätig sind. Die Teilnahme an den Besuchen zusammen mit Konsilzahnärzten sollte in den klinischen Fachsemestern – z. B. für das 8. oder für das 9. Fachsemester – angeboten werden und verpflichtend sein. Freiwillige Veranstaltungen werden nicht in ausreichender Weise besucht. Um die Akzeptanz weiter zu fördern, ist zudem das Fach Seniorenzahnmedizin in den Prüfungsthemen einzubinden.

Die dargestellte Struktur mag die Ausbildung der Studierenden ermöglichen, wissenschaftliches Arbeiten wird in einem derart bescheidenen Rahmen natürlich nicht möglich sein. Andere Länder – Kanada, USA – sind hier eindeutig weiter. Deutschland hat leider nur beim Alterungsprozess der Gesellschaft die Nase vorn.

Fazit

Wer im Zahnmedizin-Studium die Lebenswelt von Pflegebedürftigen und damit verbunden die Zahnmedizin für Pflegebedürftige nicht als relevant erlebt, wird sich in seinem zahnärztlichen Berufsleben schwer tun, den richtigen Zugang zu finden. Es ist eine wichtige Aufgabe der Hochschule, diesen Zugang nachhaltig zu vermitteln.

Prof. Dr. Ina Nitschke und
Prof. Dr. Christoph Benz

für den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin e.V.

<link url="mailto:ina.nitschke@dgaz.org" target="self" url-fragment="" seo-title="" follow="follow">ina.nitschke@dgaz.org
christoph.benz@dgaz.org

www.dgaz.org

171572-flexible-1900

Prof. Dr. Christoph Benz

Präsident der BZÄK
Bundeszahnärztekammer
136825-flexible-1900

Prof. Dr. Ina Nitschke

Universität LeipzigPoliklinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde
Bereich Seniorenzahnmedizin Liebigstr. 12, 04103 Leipzig 

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