Evidenzbasiert ratlos?
Im Januar 2017 veröffentlichte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) einen sogenannten „Vorbericht“ zum wissenschaftlichen Stand der systematischen Therapie von Parodontopathien. Der im Sinne einer vorläufigen Nutzenbewertung zu verstehende Vorbericht verfolgt das Ziel, eine objektive und wissenschaftlich belastbare Bewertung der vorhandenen Behandlungsmaßnahmen bei Parodontalerkrankungen (Gingivitis und Parodontitis) zu treffen. Wir begrüßen ausdrücklich die konsequente Anwendung der Methoden der evidenzbasierten (Zahn-) Medizin (EbM/EbZ) bei der Erstellung dieses Berichts und unterstützen die durch die Autoren geäußerte berechtigte Kritik an der Mehrzahl der in die Bewertung eingeschlossenen beziehungsweise berücksichtigten Studienartikel und ihrer Methodiken. Das vorliegende Bewertungsdokument ist daher auch als ein Aufruf an die Zahnmedizin im Allgemeinen und an die Parodontologie im Speziellen zur künftigen Durchführung methodisch besserer klinischer Studien zu verstehen. Dennoch sind aus unserer Sicht einige Anmerkungen zu den Inhalten des Vorberichts zu machen.
Auf der Grundlage der vorhandenen Fachliteratur getroffene Therapieempfehlungen hängen entscheidend von den gewählten Ein- und Ausschlusskriterien der zur Verfügung stehenden Studienartikel ab. Die Autoren des Vorberichts verfolgen eine rigorose Interpretation des Begriffs der „externen Evidenz“ im Sinne eines „Alles-oder-nichts“-Prinzips: Sofern keine Ergebnisse aus Artikeln über randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) vorliegen, wird keine externe Evidenz berücksichtigt. Mit dieser kompromisslosen Haltung wird die Kritik derjenigen Zahnärzte, die die EbM/EbZ im Sinne einer strikten Befolgung von Ergebnissen aus systematischen Übersichten oder RCT-Artikeln als „Kochbuchmedizin“ fehlinterpretieren, gestützt. Die seitens dieser Zahnärzte geäußerte unberechtigte, da unzutreffende Kritik an der EbM/EbZ als „wirklichkeitsfremd“ und „versorgungsfern“ erhält auf diese Weise durch ein anerkanntes wissenschaftliches Institut unfreiwillige Unterstützung.
Praktischer Nutzen? Fehlanzeige!
Stereotype Schlussfolgerungen, wie sie für viele Cochrane-Übersichten, die ebenfalls alle Studienartikel ohne Randomisierung unberücksichtigt lassen, typisch sind – „Ergebnisse unschlüssig, Studienqualität zu heterogen [...]. Weitere multizentrische randomisierte kontrollierte Studien sind vonnöten“ [Schindler, 2006] – , sind für die konkrete Patientenbehandlung wenig hilfreich und für (Zahn-)Ärzte frustrierend, denn der praktische Nutzen solcher Aussagen ist gleich null. In dem vorliegenden IQWiG-Vorbericht wurden trotz der gewählten, rigiden Suchstrategie immerhin einige relevante Artikel identifiziert. Allerdings ist deren Aussagekraft in der klinischen Praxis eingeschränkt, weil jede auf der Grundlage qualitativ hochstehender externer Evidenz getroffene Behandlungsempfehlung nur auf diejenige Patientengruppe übertragbar ist, die in der/den durchgeführten Studie/n untersucht wurde. Es obliegt daher dem Behandler zu entscheiden, ob Empfehlungen bei entscheidenden Unterschieden (z. B. bezüglich Alter, Herkunft oder Symptomausprägung) zwischen den in der jeweiligen Studie eingeschlossenen Probanden und den in einer konkreten klinischen Situation zu behandelnden eigenen Patienten gültig sind (Frage nach der externen Validität). Da eine solche abwägende Interpretation von Evidenz durch das IQWiG nicht akzeptiert wird, kann basierend auf der vorliegenden IQWiG-Bewertung für den allergrößten Teil der Patienten schlussendlich gar keine Therapieempfehlung abgegeben werden.
Ein Mangel an Artikeln über randomisierte kontrollierte Studien sollte jedoch nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass die praktische Durchführung einer EbM/EbZ am individuellen Patienten nicht möglich ist [Türp, 2015]. Bei vollständigem Fehlen von kontrollierten Studien gilt bekanntermaßen das Prinzip der besten externen Evidenz, wonach die jeweils höchste Evidenzstufe gewählt werden soll [Sackett et al., 1996]. Bedauerlicherweise bleibt dieser ausschlaggebende Aspekt in der vorliegenden IQWiG-Bewertung – wie im Übrigen auch in Cochrane-Übersichten – unberücksichtigt. Dazu kommt, dass die EbM/EbZ neben der externen Evidenz aus zwei weiteren Pfeilern besteht, nämlich der klinischen Kompetenz des Behandlers (sogenannte interne Evidenz) und den Patientenwerten und -präferenzen. Dies erlaubt, dass auch im Rahmen einer evidenzbasierten Entscheidungsfindung in der Regel mehr als nur „die eine beste“ klinische Handlung durchgeführt werden kann [Türp et al., 2007].
Alle Artikel zum IQWiG-Vorbericht „Parodontitistherapie“
Alternative Fakten
Sie haben gerade eine Paro-Fortbildung gebucht? Stornieren Sie! Wollten Sie gar jetzt im Februar zum Chicago Midwinter Meeting und sich das Symposium über „Perio-Systemic Inflammation Reducing Strategies“ leisten? Fahren Sie lieber an die Niagara-Fälle, sofern Mr. Trump Sie ins Land lässt. Und kommen Sie bloß nicht auf den Gedanken, in neue Paro-Behandlungsgeräte zu investieren. Rausgeschmissenes Geld! Sie lesen das Journal of Clinical Periodontology – an fünfter Stelle von 83 fachspezifischen Zeitschriften mit seinem Impact Factor von 3,688? Zeitverschwendung!
Immenser Ressourcenverbrauch bei fraglichem Nutzen
„Meine Meinung zum IQWiG-Vorbericht? Die Wörter, die mir spontan in den Sinn kommen, dürfen Sie gar nicht drucken, so wütend bin ich!“ Nicht nur aus den Büroräumen der Unikliniken hört man derzeit solche Ausrufe.
Das ist eine Gefahr für die Zahnmedizin
Der Auftrag ist klar umrissen: Das IQWiG soll die systematische Behandlung der Parodontopathien überprüfen. Das Institut legt los, sucht und findet 6.004 wissenschaftliche Arbeiten. 573 davon sind potenziell relevant. Doch nur 43 Publikationen zu 35 Studien genügen seinen strengen Kriterien. Das hat Folgen. Warum? Weil mangels Evidenz der Parodontitistherapie der Nutzen abgesprochen wird.
Fallschirme können keinen Nutzen haben ...
Die Kritik am „heiligen Evidenz-Gral“ des IQWiG ist gar nicht so neu. Bereits vor Jahren hatte das renommierte British Medical Journal auf die Konzeptgrenzen hingewiesen. Nähern wir uns dem kritisierten Sachverhalt – glossierend. Denn Sie müssen es glauben: Fallschirme können keinen Nutzen haben.
Die Zahnmedizin steckt in der Evidenzfalle
Die ersten Reaktionen reichten von ungläubigem Entsetzen über Kopfschütteln bis zum Türenknallen. Der IQWiG-Vorbericht, der einen Großteil der Parodontaltherapie quasi über Nacht für nutzlos erklärte, hat ohne jeden Zweifel für Unmut gesorgt. Die Zahnärzteschaft will sich damit nicht geschlagen geben. Im Gegenteil.
„Nice Change“
Bereits im vergangenen Jahr hat Prof. Dr. Dr. Martin Kunkel (Bochum) in seiner Publikation „A change in the NICE guidelines on antibiotic prophylaxis“, veröffentlicht im British Dental Journal, ausgeführt, welche Auswirkungen es haben kann, wenn Empfehlungen auf formal höchstem Evidenzniveau erarbeitet werden. In „Der MKG-Chirurg“ findet sich ein aktueller Kommentar, der hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags nachgedruckt wird.
Die Bewertung von Verzerrungsrisiken bei parodontologischen Studienartikeln in Analogie zur Bewertung solcher Einflüsse bei Publikationen über Arzneimittelstudien ist aus unserer Sicht vor allem deshalb kritisch zu betrachten, weil die Forderung nach Verblindung bei zentralen Fragestellungen nicht umsetzbar ist. So besteht die zahnärztliche Behandlung von schweren Parodontopathien häufig aus einem operativen Eingriff. Während bei Schein-Operationen eine Patientenverblindung vom Grundsatz her verwirklicht werden kann (wobei hier ethische Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind), ist dies bezüglich der Verblindung von Behandlern nicht der Fall. Die Forderung einer Eins-zu-eins-Übertragung der bei der Bewertung von Studienartikeln über Arzneimitteltestungen gängigen Kriterien auf Studienergebnisse über parodontalchirurgische Eingriffe erscheint uns daher weder fair noch sinnvoll. Eine realistischere Bewertung der zu einer definierten Fragestellung eingeschlossenen Studienartikel würde aus unserer Sicht die Akzeptanz der Methoden der EbM/EbZ innerhalb des gegenüber den Prinzipien der EbM/EbZ kritisch eingestellten Teils der zahnmedizinischen Profession stärken.
Der Hinweis der IQWiG-Autoren auf die fehlende Beachtung der Abhängigkeit von Daten ist aus statistischer Sicht vollkommen korrekt. Initiatoren künftiger Studien in der Parodontologie beziehungsweise allgemein in der Zahnmedizin sind aufgerufen, dieser Forderung nachzukommen. Andererseits hätte durch die Autoren eine – wenn auch nur explorative – Abschätzung des Einflusses der Datenabhängigkeit auf die Effektschätzer erfolgen können [Masood et al., 2015]. Auch der Verweis auf eine fehlende „Irrelevanzschwelle“ (siehe Kasten) als Begründung für den Ausschluss bestimmter Endpunkte aus der Analyse mutet konstruiert an, wird doch die Definition einer solchen Schwelle immer arbiträr sein. Zudem wird sie, selbst wenn sie aus einem Konsensbeschluss (z. B. im Rahmen eines Delphi-Verfahrens) abgeleitet wird, nie allgemeingültige Kriterien erfüllen können. Schlussendlich wird die Bewertung über Relevanz oder Irrelevanz situativ, d. h. in einer konkreten Behandlungssituation, erfolgen müssen.
Irrelevanzschwelle
Für den statistisch abgesicherten Nachweis eines relevanten Effekts bzw. zum hinreichend sicheren Ausschluss eines klar irrelevanten Effekts fordert das IQWiG, dass ein beobachteter Therapieeffekt (genauer: das zum beobachteten Effekt korrespondierende Konfidenzintervall der Schätzer dieses Effekts) oberhalb einer sogenannten „Irrelevanzschwelle“ liegt [Quelle: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): Allgemeine Methoden. Version 4.2 vom 22.04.2015. IQWiG, Köln].
Der von IQWIG verwendete Begriff „Irrelevanzschwelle“ ist aus anderen Wissenschaftsbereichen (z. B. dem Rechtswesen) oder in Zusammenhang mit Umwelteinflüssen (z. B. Schadstoffeinwirkungen, Lärmbelastung, Geruchsbelästigungen) seit längerer Zeit bekannt. Zur Bewertung klinischer Relevanz ist dieser Begriff bislang hingegen unbekannt gewesen.
Die verbale Bewertung, wann ein „Anhaltspunkt“ für den Nutzen einer Behandlungsmaßnahme gegeben ist und wann nicht, erscheint willkürlich, weil quantitative Aspekte (Zahl der Studienartikel; synthetisierte Effektschätzer) mit qualitativen Aspekten (Verzerrungsrisiken) vermengt werden. Eine transparentere Darlegung der Bewertung wäre daher wünschenswert. Zudem kann ein „Anhaltspunkt“ für Nutzen beispielsweise auch gegeben sein, wenn die quantitative Synthese mehrerer Studienartikel (unabhängig vom Verzerrungsrisiko) signifikante Gesundheitseffekte zeigt (wie es bei der vorliegenden Bewertung an verschiedenen Stellen der Fall war).
Die evidenzbasierte (Zahn-)Medizin tritt mit dem Anspruch an, unser Wissen um die Güte medizinischer Interventionen zu mehren. Dazu gehört selbstverständlich auch das Aufdecken von Irrwegen in Diagnostik und Therapie. Der rigide und pauschale Ausschluss von externer Evidenz hoher Qualität – auch aufgrund wenig transparenter Kriterien, wie fehlender „Irrelevanzschwellen“ – ist weder für Patienten noch für (Zahn-) Ärzte hilfreich. Möglicherweise lässt er die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger ebenso ratlos zurück.
PD Dr. Falk Schwendicke, MDPH
Abteilung für Zahnerhaltung und Präventivzahnmedizin
Charité Centrum 3 für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Aßmannshauser Str. 4–6, 14199 Berlin
Prof. Dr. Jens Christoph Türp, MSc, M.A.
Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin und Myoarthropathien
UZM-Universitätszahnkliniken
Hebelstr. 3, CH-4056 Basel
Literaturliste
Masood M, Masood Y, Newton JT: The clustering effects of surfaces within the tooth and teeth within individuals. J Dent Res 2015; 94:281-288
Sackett DL, Rosenberg WMC, Gray JAM, Haynes RB, Richardson WS: Evidence based medicine: What it is and what it isn't. BMJ 1996; 312:71-72
Schindler HJ: Evidenz-basierte Zahnmedizin: Chimäre oder hilfreiches Konzept für den Praktiker? Dtsch Zahnärztl Z 2006; 61:59-60
Türp JC: Evidenzbasierte Zahnmedizin. Parodontologie 2015; 26:113-121
Türp JC, Heydecke G, Krastl G, Pontius O, Antes G, Zitzmann NU: Restoring the fractured rootcanal-treated maxillary lateral incisor: In search of an evidence-based approach. Quintessence Int 2007; 38:179-191