„Wir haben wirklich alles auf den Kopf gestellt!“
Eine berufliche Laufbahn nach dem Vorbild seines Vaters hatte der gebürtige Bielefelder zunächst gar nicht im Sinn. Stattdessen wollte der Zahnarztsohn Journalist werden. Aber nach einigen Fingerübungen für ein Lokalblatt entschied sich der Abiturient dann für die Medizin und schrieb sich an der Universität Marburg ein. Weil dort ein zahn- und allgemeinmedizinisches Doppelstudium nicht möglich war, wechselte er schließlich nach Mainz. Weitkamp legte 1963/1965 die Staatsexamen ab, wurde 1968 zum Dr. med. und Dr. med. dent. promoviert und war als wissenschaftlicher Assistent tätig.
Vor dem Einstieg in die väterliche Praxis im ostwestfälischen Lübbecke absolvierte der junge Zahnmediziner ein 18-monatiges Postgraduate-Studium an der University of Michigan in Ann Arbor, an der Prof. Dr. Sigurd P. Ramfjord lehrte und forschte. Weitkamp: „Die USA waren damals auf vielen Gebieten führend und Ramfjord, den fast jeder Zahnmediziner auf der Welt kannte, eine Koryphäe in den Bereichen Parodontologie und Okklusion. Er forderte Leistung von seinen Studenten – unerbittlich, konsequent und kompromisslos.“
Sein Protest machte den 38-Jährigen bekannt
Die US-Erfahrungen prägten Weitkamps Berufs- und Lebensweg und bestimm(t)en sein Verständnis einer zeitgemäßen, präventiv ausgerichteten und wissenschaftlich basierten Zahnheilkunde.
Mitte der 1970er-Jahre startete Weitkamp in der Standespolitik, nicht ahnend, dass sein Engagement ihn ein Vierteljahrhundert später bis an die Spitze der deutschen Zahnärzteschaft bringen würde. Im Streit um die Einbeziehung der Prothetik ins Sachleistungsprinzip, die von den meisten Zahnmedizinern wegen der absehbaren Überforderung des solidarischen Gesundheitssystems und der Finanzkraft der Krankenkassen abgelehnt wurde, opponierte der damals 38-Jährige gegen die zustimmende Haltung der KZV Westfalen-Lippe. Sein vehementer Protest auf einer Bezirksversammlung machte ihn schlagartig über die Kammergrenze hinaus bekannt. In den FVDZ gelangte er indes nur mithilfe des Bundesvorsitzenden Helmut Zedelmaier – der zuständige Landesverband wollte den Rebellen nicht in seinen Reihen.
Bei den Wahlen zur Vertreterversammlung der KZVWL hatten Weitkamp und Kollegen 1977 mit einer eigenen Liste Erfolg, die bisherige KZVWL-Führung wurde abgelöst, Weitkamp Mitglied des neuen Vorstands und im selben Jahr zugleich stellvertretender Vorsitzender des FVDZ. 1990 gewann er mit großer Mehrheit die Wahl als Präsident der Zahnärztekammer Westfalen-Lippe und wurde ferner Vorsitzender der KZBV-Vertreterversammlung. Diese einzigartige Doppelposition – als Mitglied des BZÄK-Vorstands und Gast der KZBV-Vorstandssitzungen – verschaffte Weitkamp bis zu seinem Wechsel nach Berlin tiefe Einblicke in die Standespolitik und schnell wachsende Bedeutung auf Bundesebene.
Das war neu: Zahnärzte sollen mit Patienten reden
Seine Agenda an der Spitze der Münsteraner Kammer wurde schnell deutlich. „Ich wollte die Kammer politisieren und zum Sprachrohr der gesamten Zahnärzteschaft machen, verkrustete Strukturen aufbrechen. Das Kammergeschehen war damals sehr auf Repräsentation angelegt, auf die Bewahrung alter Formen und Rituale.“ In Weitkamps gesundheitspolitischen Zukunftsvisionen rückten die Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention in den Vordergrund, es entstanden Konzepte wie „Zahnheilkunde plus“ und „Sprechende Zahnheilkunde“. „Zahnärzte müssen mit den Patienten reden, ihnen die Behandlung erklären, Alternativen benennen“, erklärt Weitkamp den damals neuen Ansatz. Mit dem Beirat „Qualität“ entstand ein Gremium für den interdisziplinären Gedankenaustausch mit Fachleuten aus dem Finanz-, Gesundheits- und Wirtschaftssektor. Dazu kam eine Bildungs- und Qualifizierungsoffensive. Weitkamp: „Mir war immer klar: Die freiberuflich ausgeübte Zahnheilkunde ist so gut wie beruflich Tätige kompetent sind. Und Kompetenz erwirbt man durch Studium, die Arbeit in der Praxis und regelmäßige Fortbildung.“
Seminare in der Akademie – statt im Wirtshaus
1991 wird das „Zentralinstitut für Helferinnenfortbildung“ (ZI) eröffnet, für Weitkamp „das dringlichste Projekt im Rahmen der Prävention“. 1996 setzt er gegen manche Widerstände den Bau der Akademie für Fortbildung in Münster durch. In allen Bezirksstellen der Kammer kämpfte der Präsident für das Vorhaben. Fortbildung sollte künftig unter modernsten Bedingungen stattfinden, mit einem Kurs- und Seminarangebot nach einheitlichen Standards und Regeln, an einem zentralen Ort und nicht mehr in mitunter einfachen Wirtshaussälen überall in der Region. Das architektonisch herausragende Gebäude konnte dank einer geschickten Konstruktion ohne öffentliche Mittel und Kredite finanziert werden. Damit ging es auch in der Fortbildung weg von einem reinen Reparaturbetrieb hin zur präventionsorientierten Zahnheilkunde.
1991 geben Weitkamp und Prof. Dr. Burkhard Tiemann, KZBV-Hauptgeschäftsführer und Geschäftsführender Direktor des Instituts der deutschen Zahnärzte, den Anstoß für die „Akademie für freiberufliche Selbstverwaltung und Praxismanagement“ (AS). Sie vermittelt Zahnmedizinern in einem viersemestrigen Studiengang Wissen über die Gesundheits- und Standespolitik, politische und soziale Kompetenzen für die Wahrnehmung von Selbstverwaltungsaufgaben sowie betriebswirtschafts- und steuerrechtliches Know-how zur eigenen Praxisführung. Heute umfasst der Kreis der Trägerkörperschaften – inzwischen unter der Schirmherrschaft der BZÄK– neun Landeszahnärztekammern und sechs KZVen.
„Er hat in Münster für Berlin geübt!“
Verdienste erwarb sich Weitkamp bei der Zusammenführung des Bundesverbandes Deutscher Zahnärzte (BDZ) und der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Zahnärzte“ (ADZ), deren Repräsentanten im Januar 1993 seiner Einladung zu einer gemeinsamen Hauptversammlung in den Friedenssaal des Münsteraner Rathauses folgten, nach Jahren der Trennung wieder zueinander fanden – und sich vereinten zur Bundeszahnärztekammer. Und im letzten Jahr seiner Münsteraner Präsidentschaft kann Weitkamp noch ein ganz persönliches Anliegen realisieren. Mit dem Preis der von ihm kreierten „Apollonia zu Münster – Stiftung der Zahnärzte in Westfalen-Lippe“ werden fortan Persönlichkeiten ausgezeichnet, die in ihrem Wirkungsbereich den „Präventionsgedanken nachweisbar ‚leben’“. Geehrt wurden beispielsweise der Mainzer Kardinal Lehmann (2004) und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (2012).
„Die Zeit brauchte so einen wie ihn“, kommentiert sein Nachfolger Dr. Walter Dieckhoff Weitkamps Präsidentschaft in Münster. „Er hat die Kammer auf vielen Feldern zu der schlagkräftigsten und programmatisch führenden im Bereich der BZÄK gemacht, Defizite schnell erkannt, gesehen, wie und wo man eingreifen muss. Wissenschaftlicher Rat wurde einbezogen und so das Bild der Zahnärzte positiv verändert. Er hat in Münster für Berlin geübt.“
Was wir nicht selber regeln, regeln andere für uns
Nach seiner Ernennung zum Ehrenpräsidenten der ZÄKWL und der Wahl zum BZÄK-Präsidenten auf der Bundesversammlung am 3. November 2000 in Dresden packte er zunächst den Umzug der Kammer von Köln in die Bundeshauptstadt an, der noch unter der Ägide seines Vorgängers, Dr. Fritz-Josef Willmes, beschlossen worden war – und nun gemanagt werden musste. Als leidenschaftlicher Befürworter der BZÄK-Verlegung rekrutierte Weitkamp mit seinem Hauptgeschäftsführer Klaus Schlechtweg ein fast komplett neues Team für das Borsig-Haus in der Berliner Chausseestraße, schuf moderne Strukturen und Ressourcen: „Wir haben wirklich alles auf den Kopf gestellt.“
Ihm lag daran, dem Berufsstand mehr seriöse Durchschlagskraft zu verschaffen, seine Ausstrahlung und sein Ansehen zu verbessern, mehr das Ärztliche in der Zahnmedizin herauszustellen und das Image der „Zahnklempnerei“ zurückzudrängen. Und vor allem: eine ganz enge Verbindung zur Wissenschaft herzustellen – nach Jahren des allenfalls reservierten Umgangs von BZÄK und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) miteinander.
Anders als in Köln, in Distanz zum politischen Zentrum der Republik, konnte mitten in Berlin ein enges, vertrauensvolles und verlässliches Netzwerk zu Ministerien, Parteien und Fraktionen geknüpft werden, um die Interessen und Positionen der Zahnmedizin offensiv zur Geltung zu bringen. 2001 richtete Weitkamp das „Consilium unabhängiger Wissenschaftler“ ein, mit ausgewiesenen Experten unterschiedlicher Disziplinen. BZÄK und Wissenschaft traten in einen kontinuierlichen Dialog. Der Kreis der Professoren tagte regelmäßig, lieferte Erkenntnisse und Perspektiven aus Sozial-, Rechts- und Politikwissenschaft für die konzeptionelle Arbeit und Vorhaben der BZÄK. Weitkamp: „Damit konnten wir unsere Anliegen und Forderungen unabweisbar wissenschaftlich begründen und unterlegen. Denn: Was wir nicht selber regeln, regeln andere für uns!“
Die deutsche Zahnmedizin als Premium-Marke, den Berufsstand und seine Kompetenzen stärker und nachhaltiger der Öffentlichkeit bewusst zu machen, gelang Weitkamp – stets konziliant, doch bestimmt in der Sache – durch einen umfassenden Relaunch des Deutschen Zahnärztetages, der lange als eine wenig beachtete Fortbildungsveranstaltung vor sich hingedümpelt hatte. Mit einem Festakt im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt präsentierte sich 2004 erstmals der neue, unter Federführung der BZÄK gemeinsam mit der DGZMK und der KZBV entwickelte Deutsche Zahnärztetag als politisches Podium von BZÄK, Wissenschaft und Vertragszahnärzten und Forum für standespolitische Stellungnahmen.
Das große, bestimmende Leitthema seiner Münsteraner und Berliner Jahre ist für Weitkamp die Prävention („Ohne sie ist alles nichts“), die möglichst lebenslange Erhaltung der oralen Strukturen durch ein Präventionskonzept, das Patienten die maximale Freiheit bei der Wahl der Therapieform bietet und die Wechselwirkungen von Zahngesundheit und Gesamtorganismus in den Blick nimmt. Auf dem Zahnärztetag 2005 wird die von BZÄK, DGMZK und KZBV erarbeitete „Neubeschreibung einer präventionsorientierten Zahnheilkunde“ verabschiedet – ein Paradigmenwechsel, der die Zahnheilkunde auf wissenschaftlicher Basis zukunftweisend und solidarisch finanzierbar ausrichtet. Sie liefert auch den Impuls für den Kurswechsel in der Finanzierung – von prozentualer Bezuschussung zu den befundorientierten Festzuschüssen als Steuerungselement für eine Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung.
„Ohne ihn hätten wir uns nicht getraut!“
Ebenso wird die Neufassung der Gebührenordnung (GOZ) erarbeitet. 2011 wird sie vom Gesetzgeber erlassen. So weit ist es mit der Approbationsordnung immer noch nicht. Wiederholt hatte Weitkamp die längst überfällige Novellierung angemahnt: „Die Studenten wären seit Langem völlig veraltet ausgebildet worden, hätten sich die Professoren an die alte Approbationsordnung gehalten.“ Dass der Bundesverband der Zahnmedizinstudenten (BdZM) den Entwurf unterstützt, der die parallele und inhaltsgleiche vorklinische Ausbildung der künftigen Zahn- und Allgemeinmediziner festschreibt, ist nicht zuletzt auch ein Erfolg der Förderung durch Weitkamp. Er machte den jungen Zahnmedizinern Mut, ihre Interessen zu artikulieren, unterstützte sie 2009 bei der Gründung des Bundesverbandes der zahnmedizinischen Alumni (BdZA). „Ohne Weitkamp hätten wir uns nicht getraut“, bekennt der erste BdZA-Vorsitzende Jan-Philipp Schmidt.
Als mit der Wahl von Dr. Peter Engel zu seinem Nachfolger 2008 in Stuttgart die Ära Weitkamp endet, dankt ihm die Zahnärzteschaft mit der Ernennung zum Ehrenpräsidenten und stehenden Ovationen.
Reinhard Günnewig
Freier Autor und Biograf
Ehrungen und Auszeichnungen
Den vielen Ehrungen und Auszeichnungen für Dr. Dr. Jürgen Weitkamps Verdienste in der Standespolitik und der Zahnheilkunde (unter anderem Ehrennadel der DGZMK, DGP, Ehrenmitgliedschaft der DGMK, Bundesverdienstkreuz 1. Klasse) folgte 2014 eine weitere Anerkennung, eine besondere Würdigung seines bürgerschaftlichen Engagements: die Ehrenbürgerschaft der Weltkulturerbestadt Quedlinburg. Sofort nach der Wende war Weitkamp nach Sachsen-Anhalt gefahren, hatte sich für die Stadt begeistert („Meine zweite Heimat“), bei Dutzenden Besuchen viele Projekte initiiert, ermöglicht, gefördert, Existenzgründer unterstützt und, offiziell beauftragt, sogar die Gründung des örtlichen Rotary-Clubs gemeistert.