Trismus als Folgeerscheinung einer Erbkrankheit
Der Fall
Eine 22-jährige Patientin stellte sich in unserer Schmerzambulanz zur weiteren Therapie vor. Sie beklagte eine reduzierte Mundöffnung, eine Druckdolenz im Bereich der Kaumuskulatur und ein „knisterndes“ Geräusch im Bereich des linken Kiefergelenkes. Bei der intraoralen Inspektion, die sich aufgrund der Mundöffnung als herausfordernd erwies (Abbildung 1), konnten weder hart- noch weichgewebliche Pathologien festgestellt werden.
Ein klinischer Hinweis auf eine mögliche Dentitio difficilis in regio 038, die die Patientin vermutet hatte, konnte nicht gefunden werden. Zur weiteren Diagnostik wurde ein Kopf-CT angefertigt, das eindrücklich die massiv eingeschränkte interokklusale Distanz im Molarenbereich demonstriert (Abbildung 2).
Die leicht nach anterior geneigte Position der Patientin verdeutlicht zudem die eingeschränkte körperliche Mobilität (Abbildung 3). Sie äußerte große Bedenken ob ihrer Mundöffnung, da die Nahrungsaufnahme bereits sehr eingeschränkt und schmerzhaft sei.
Die Patientin ist auf den Rollstuhl angewiesen, den sie mit ihrer rechten Hand und ihrem Unterarm steuern kann. Die übrigen Extremitäten sind unbeweglich und in der jetzigen Position „fixiert“, der geistige Entwicklungszustand ist normgerecht.
Allgemeinanamnestisch gab die Patientin an, an der seltenen Erkrankung „Fibrodysplasia ossificans progressiva“ zu leiden. Die Intention dieses Beitrages ist es, dieses Krankheitsbild vorzustellen und insbesondere auf zahnärztlich-chirurgische Besonderheiten einzugehen.
Diagnostik und Klinik
Gemäß Orphanet ist die Fibrodysplasia ossificans progressiva (OMIM #135100) eine „schwere, invalidisierende erbliche Erkrankung des Bindegewebes und gekennzeichnet durch angeborene Fehlbildungen der großen Zehen und progressive heterotope Ossifizierung mit qualitativ normalem Knochen an charakteristischen Stellen außerhalb des Skeletts“. Die Vererbung erfolgt autosomal dominant. Skelettanomalien gehen einher mit der fortschreitenden Verknöcherung der quergestreiften Muskulatur. Die Krankheit führt zu einer Lähmung der Arme, des Halses und der Beine sowie zur Einschränkung der Hüftbewegungen. Besonders schwerwiegend ist die mögliche Ausbildung einer Skoliose bzw. eines Trismus - mit der Folge, dass eine regelrechte Nahrungsaufnahme per os nicht mehr möglich ist.
Die Ursache der klassischen FOP ist eine wiederkehrende aktivierende Mutation (617G>A; R206H) im ACVR1/ALK2-Gen (2q24.1), das für den Activin-A-Rezeptor Typ I, ein „Bone Morphogenetic Protein“(BMP)-Typ-I-Rezeptor, kodiert [Pignolo, Shore et al., 2011].
Bei einer Inzidenz dieser Erkrankung von 1:2 Millionen sind weltweit circa 600 Fälle bekannt. Demnach handelt es sich um eine äußerst seltene Entität. FOP kann sich bereits pränatal, aber auch erst im Erwachsenenalter manifestieren. Der Beginn der Symptome tritt in 43 % der Fälle in den ersten beiden Lebensjahren auf [Mahboubi, Glaser et al., 2001], wobei Kinder mit Ausnahme der Fehlbildung der großen Zehen (Hallux valgus, fehlgebildetes erstes Metatarsal und/oder Monophalangie) normal erscheinen. Während des ersten Lebensjahrzehntes treten sporadische Episoden von schmerzhaften Anschwellungen der Weichteile (sogenannte „flare-ups“) auf. Auslöser sind oft traumatische Verletzungen durch Stürze oder Erschöpfung, intramuskuläre Injektionen, Muskelzerrungen und/oder -überdehnungen oder Virusinfektionen. Skelettmuskeln, Sehnen, Ligamente, Faszien und Aponeurosen werden dadurch in heterotopen Knochen umgebaut, wodurch eine Bewegung unmöglich wird.
Die Diagnose erfolgt klinisch, wobei auch konventionelle Röntgenaufnahmen nuancierte Veränderungen der Großzehen und heterotope Ossifikationen sichern können. Genetische Testverfahren zur Bestätigung sind ebenfalls verfügbar.
Die FOP ist unheilbar, eine medikamentöse Therapie existiert nicht. Vorübergehende traumatische Ereignisse können mittels viertägiger, hochdosierter Korticosteroid-Verabreichung eine starke Entzündung und das damit einhergehende Gewebsödem vermindern. Die mittlere Lebensdauer beträgt 40 Jahre. Der letale Ausgang basiert häufig auf Komplikationen verursacht durch die eingeschränkte Beweglichkeit des Thorax.
FOP und zahnärztlich-chirurgische Therapie
Patienten, die an FOP erkrankt sind, unterscheiden sich in ihrer oralen Situation nicht von der Allgemeinbevölkerung. Solange das kraniomandibuläre System nicht betroffen ist, wird die Prävalenz kariöser Läsionen, Gingivitiden und parodontaler Erkrankungen in der Regel nicht erhöht sein. Sobald es jedoch zu einer Ankylose der Kiefergelenke und damit einer eingeschränkten Mundöffnung kommt, ist die Aufrechterhaltung der Mundhygiene nur noch eingeschränkt möglich [Nussbaum, O'Hara et al., 1996]. Eine Aufdehnung der Mundöffnungs- bzw. -schließmuskulatur führt zu einer weiteren Ossifizierung und damit zur Verschlechterung der Mundöffnung. Lediglich in einem publizierten Fall konnte über einen langen Zeitraum unter Verwendung diverser Hilfsinstrumente die Mundöffnung des Betroffenen verbessert werden [Braga, Silva et al., 2011]. Konservierende Therapien und auch prothetische Präparationen sind bedenkenlos durchführbar, sofern notwendig und der orale Zugang dies zulässt.
Die Durchführung einer Lokalanästhesie ist nur als Infiltrations-, Intraligamentär- oder Intrapulpalanästhesie - und unter größter Vorsicht - durchzuführen. Leitungsanästhesien im Unterkiefer sind absolut kontraindiziert, da diese zu einer Ossifikation der Pterygoid-Muskulatur und zu einer Ankylose des Kiefergelenkes führen [Webb and Wilson, 1996; Nussbaum, 2009]. Dies gilt sowohl für konservierende und prothetische Maßnahmen als auch für einfache Extraktionen. Für ausgedehntere Eingriffe (z. B. Entfernung der Weisheitszähne) sollte eine Überweisung in eine Fachklinik folgen. Die Durchführung in Intubationsnarkose stellt für diese Patienten einerseits ein weitgehend sicheres Verfahren, andererseits für die an der Therapie Beteiligten eine große Herausforderung dar [Kilmartin, Grunwald et al., 2014]. Auch hier ist aufgrund einer möglichen Überdehnung der kraniomandibulären Strukturen größte Sorgfalt an den Tag zu legen. Sollte die Mundöffnung nicht ausreichen, wird empfohlen, nicht erhaltungsfähige Prämolaren oder Molaren zu entfernen, indem zuerst der bukkale Alveolarfortsatz abgetragen wird [Mori, Susami et al., 2011].
Die radiologische Diagnostik wird mit den üblichen Standardverfahren durchgeführt, sofern die Konzeptionierung des Aufnahmegerätes den körperlichen Veränderungen bei diesen Patienten gerecht wird. Im vorliegenden Fall war die Anfertigung einer Panoramaschichtaufnahme aufgrund der ausgeprägten motorischen Einschränkungen der Patientin nicht möglich. Aus dieser eingeschränkten Mobilität ergab sich die rechtfertigende Indikation für eine CT-Untersuchung, weil das Design des CT-Gerätes eine Aufnahme zum Ausschluss enossaler pathologischer Veränderungen zuließ. Die Versteifung der betroffenen Patienten kann allerdings auch dazu führen, dass nur von der Norm abweichende, unter Umständen gekrümmte Positionen eingenommen werden können. Die Frage nach dem Ausmaß der ossären Transformation von weichgeweblichen Strukturen mithilfe einer MRT-Untersuchung kann derzeit nicht beantwortet werden, weil auch in offenen Geräten eine Positionierung der Patientin nicht möglich ist.
Fazit für die Praxis
Patienten, die an einer Fibrodysplasia ossificans progressiva (FOP) leiden, können in der zahnärztlichen Praxis unter Einhaltung der beschriebenen Vorsichtsmaßnahmen versorgt werden.
Trismus als eine Folge dieser Erkrankung erschwert sowohl die häusliche Mundhygiene als auch die Inspektion des Kauorgans und im fortgeschrittenen Stadium die Ingestion.
Eine lebenslange, regelmäßige und gründliche Präventionsstrategie spielt bei dieser Patientenklientel eine besonders große Rolle.
Leitungsanästhesien im Unterkiefer sind wegen der Ausbildung einer Ossifikation der Pterygoid-Muskulatur und einer Ankylose der Kiefergelenke kontraindiziert.
Bei Therapien im Unterkiefer, die eine Leitungsanästhesie erfordern, ist zur Vermeidung von Ossifikationen und Ankylosen eine Behandlung unter Intubationsnarkose in Erwägung zu ziehen.
Aktuelle Therapiestrategien und Verhalten bei zahnärztlichen Notfällen sind in den FOP-Treatment-Guidelines hinterlegt (www.ifopa.org), die regelmäßig aktualisiert werden.
Oberarzt Dr. Korbinian Benz, MHBA
Univ.-Prof. Dr. Jochen Jackowski
Abteilung für Zahnärztliche Chirurgie und Poliklinische Ambulanz
Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Fakultät für Gesundheit
Universität Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Str. 44, 58455 Witten
und
CeSER - Zentrum für seltene Erkrankungen Ruhr
Kompetenzzentrum der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Witten/Herdecke
Alexandrinenstraße 5, 44791 Bochum
Literatur:
Braga, J. M., M. F. Silva, L. C. Silva, P. I. Seraidarian and A. Cruz Rde (2011). „Improvement of mouth opening for a patient with fibrodysplasia ossificans progressiva: a case report.“ Spec Care Dentist 31(6): 220-225.
Kilmartin, E., Z. Grunwald, F. S. Kaplan and B. L. Nussbaum (2014). „General anesthesia for dental procedures in patients with fibrodysplasia ossificans progressiva: a review of 42 cases in 30 patients.“ Anesth Analg 118(2): 298-301.
Mahboubi, S., D. L. Glaser, E. M. Shore and F. S. Kaplan (2001). „Fibrodysplasia ossificans progressiva.“ Pediatr Radiol 31(5): 307-314.
Mori, Y., T. Susami, N. Haga, K. Tamura, Y. Kanno, H. Saijo and T. Takato (2011). „Extraction of 6 molars under general anesthesia in patient with fibrodysplasia ossificans progressiva.“ J Oral Maxillofac Surg 69(7): 1905-1910.
Nussbaum, B. L. (2009). „Dental care for patients who are unable to open their mouths.“ Dent Clin North Am 53(2): 323-328, x.
Nussbaum, B. L., I. O'Hara and F. S. Kaplan (1996). „Fibrodysplasia ossificans progressiva: report of a case with guidelines for pediatric dental and anesthetic management.“ ASDC J Dent Child 63(6): 448-450.
Pignolo, R. J., E. M. Shore and F. S. Kaplan (2011). „Fibrodysplasia ossificans progressiva: clinical and genetic aspects.“ Orphanet J Rare Dis 6: 80.
Webb, M. D. and C. Wilson (1996). „The use of intraosseous anesthesia in a patient with myositis ossificans progressiva.“ Spec Care Dentist 16(1): 29-32.