Unsere Empfehlungen für die Praxis!
1. Schritt: ausführliches Gespräch zu ...
Beeinträchtigung durch Karies,
Dauer und Ausprägung der Karies (Wann wurde festgestellt, dass Probleme bestehen? Was hat der Zahnarzt dagegen unternommen?),
Kenntnis und Bewusstsein der Personensorgeberechtigten oder Bezugspersonen in Bezug auf Mundgesundheit,
Erörterung der Folgen einer Vernachlässigung der Zahn- und Mundhygiene,
Bereitschaft/Fähigkeit zur zahnärztlichen Behandlung der Kinder und Jugendlichen,
Verfügbarkeiten der und Bereitschaft zur zahnärztlichen Versorgung.
Zusätzlich sollte mit beachtet werden, ob es weitere sichtbare Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung (KWG) gibt, zum Beispiel:
Anzeichen für Vernachlässigung (mangelnde Körperhygiene, nicht wettergerechte Kleidung, Untergewicht oder Hinweise auf Mangelernährung, deutliches Übergewicht etc.)
Art der Eltern-Kind-Interaktion
Um das Mitbringen des gelben Vorsorgeheftes zum nächsten Termin sollte gebeten werden (Vorsorge „U“ regelmäßig erfolgt? Einträge, die auf Kindeswohlgefährdung hinweisen?)
Grundannahme ist dabei, dass die Ansichten der Kinder bei der Behandlungsplanung je nach Alter und Entwicklungsstand berücksichtigt werden sollten. Zusätzlich muss die Fähigkeit zur Behandlung berücksichtigt und gegebenenfalls das Behandlungsumfeld angepasst werden – durch zum Beispiel Formen der Verhaltenslenkung, pharmakologische Verfahren wie Sedierung, Analogsedierung sowie Behandlung unter Narkose.
Die Kinderschutzhotline
Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und medizinisches Fachpersonal, die bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellen Kindesmissbrauch wissen wollen, wie sie konkret vorgehen sollen, können sich kostenlos an die Medizinische Kinderschutzhotline (www.kinderschutzhotline.de) wenden. Das Angebot wird vom Universitätsklinikum Ulm und dem DRK Klinikum Berlin-Westend betrieben und bietet in schwierigen Entscheidungssituationen eine zeit- und praxisnahe Beratung nach dem Bundeskinderschutzgesetz es ist kein Ersatz zur Kooperation mit dem Jugendamt. Ziel ist, rechtliche Unsicherheiten etwa zur Informationsweitergabe nach § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Kommunikation im Kinderschutz (KKG) zu klären und Informationen schneller zugänglich zu machen. Im wissenschaftlichen Beirat zu der Hotline ist auch die Bundeszahnärztekammer vertreten, so dass das Angebot auch auf Zahnärzte ausgerichtet ist.
Typische Gründe für das Nichtwahrnehmen von Terminen ist die Überlastung der Eltern im oder mit dem Alltag, die zu einer geringen Priorisierung der Mundgesundheit ihrer Kinder und Jugendlichen führt. Eine Überlastung der Eltern spiegelt dabei den Unterstützungsbedarf dieser Eltern wider.
2. Schritt: Festlegen eines Kontrolltermins (beziehungsweise Termins zur Zahnsanierung)
Szenario A: Folgetermine werden wahrgenommen, Maßnahmen zur Verbesserung der Zahn- und Mundgesundheit werden offenbar umgesetzt, dann:
weitere Verlaufskontrollen
Szenario B: Folgetermine werden nicht wahrgenommen, dann:
Familie erneut einladen (gegebenenfalls mit dem Hinweis, dass Sorge besteht)
erneut das Gespräch suchen (Erörterung der Situation, gegebenenfalls Hinwirken auf Hilfen)
Bitte um Schweigepflichtentbindung für die Kontaktaufnahme mit dem behandelnden Kinderarzt
Szenario C: Familie erscheint wieder nicht, setzt Maßnahmen nicht um, dann:
Wenn Schweigepflichtentbindung für Kinderarzt vorhanden ist: Kontaktaufnahme und gemeinsame Erörterung über weiteres Vorgehen (eventuell Beratung durch Kinderschutzfachkraft).
Wenn keine Schweigepflichtentbindung für den Kinderarzt vorhanden ist: Beratung durch Kinderschutzfachkraft („Insofern erfahrene Fachkraft“) nach dem Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz, § 4 KKG (ist nicht verpflichtend, aber eine sinnvolle Option).
Wenn kein (ausreichender) Anhalt für Kindeswohlgefährdung vorliegt: weiterhin Gespräch, Behandlungen, Hilfen oder Beratungen anbieten (jederzeit Neubewertung des Falles erforderlich).
Wenn ein Anhalt für Kindeswohlgefährdung vorliegt: Meldung an das Jugendamt, in der Regel nach Information der Eltern oder Sorgeberechtigten.
Dr. Michael Schäfer
Vorsitzender des Bundesverbandes der Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes
Landeshauptstadt Düsseldorf
Stellvertretender Leiter des Gesundheitsamtes, Bereich Prävention und Gesundheitsförderung
Folke Schläger
Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin
Stellvertretende Leiterin des Bereichs Kinder- und Jugendgesundheit im Gesundheitsamt Düsseldorf
zertifizierte Kinderschutzfachkraft
Dr. Michael Schäfer, Vorsitzender des Bundesverbandes der Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BZÖG)
„Es gilt, als Zahnärztin und als Zahnarzt eine Haltung zu entwickeln!“
Herr Dr. Schäfer, vor Kurzem wurde die neue Kinderschutz-Leitlinie veröffentlicht. Warum war hier der BZÖG mit involviert?
Dr. Michael Schäfer: Es handelt sich um eine medizinische AWMF-Leitlinie der Kategorie S3+. Das Plus bedeutet, dass hier nicht nur Mediziner und Zahnmediziner beteiligt waren, sondern auch weitere Disziplinen, nämlich die Jugendhilfe und die Pädagogik. Wir vom Öffentlichen Gesundheitsdienst sind sozusagen an der Zielgruppe der betroffenen Kinder mit unserer täglichen Arbeit ganz dicht dran. Wir können helfen, Fälle von potenzieller Vernachlässigung zu erkennen und stellen den Behandlungsbedarf fest. Über die Frühen Hilfen sind die Teams des ÖGD neben den Zahnärztinnen und Zahnärzten zeitig eingebunden. Gerade Frühe Hilfen bieten lokale Unterstützungssysteme für hochsensible Familien ab Beginn der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren. Hinzu kommt die gruppenprophylaktische Betreuung der Kinder und Jugendlichen in Kitas und Schulen. Und als BZÖG ist es unsere Aufgabe, als Bindeglied zwischen den handelnden Gremien und Institutionen zu agieren.
Worauf müssen Ihre Teams bei der Betreuung besonders achten?
Wir sehen bei unseren Screenings so viele junge Menschen wie kaum eine andere Berufsgruppe, die mit Kindern zu tun hat. Und nirgendwo besteht die Möglichkeit, so deutlich ein Augenmerk auf Kopf-, Hals- und Schädelverletzungen zu legen wie bei zahnärztlichen Untersuchungen. Es gilt, als Zahnärztin und als Zahnarzt eine Haltung zu entwickeln: Wir müssen uns bewusst sein, dass wir neben unserer Hauptaufgabe, dem Karies-Screenings und der Motivation zur Mundgesundheit, den Blick auf weitere Aspekte der Kindergesundheit schärfen müssen. Hier sind die Zahnärzte noch nicht genügend sensibilisiert. Wir wissen aus den verschiedensten Fortbildungen in Sachen häusliche Gewalt, was zu tun ist – aber zum Thema Kindesvernachlässigung sind wir noch nicht gut genug aufgestellt.
Was passiert institutionell, wenn ein Fall dentaler Vernachlässigung tatsächlich als solcher erkannt wird?
Dann ist ein koordiniertes und multiprofessionelles Vorgehen von ÖGD, anonymer Fallberatung, Fachberatung und Fachkooperation und schließlich dem Jugendamt notwendig. Extrem wichtig ist es, immer zuerst mit den Sorgeberechtigten des Kindes ins Gespräch zu kommen. Es muss auf jeden Fall deren Einverständnis vorliegen, um einen Austausch zu allen Verdachtsmomenten vornehmen zu können, damit nachfolgend ein konkreter Unterstützungsbedarf formuliert werden kann. Wie wichtig es ist, nachdrücklich auf ein Gespräch mit den Sorgeberechtigten hinzuarbeiten, ist mir erst letztlich bewusst geworden, nachdem mir der Fall eines Kindes zugetragen wurde, bei dem die Kollegin aus dem ÖGD gemeinsam mit der Schule auf den Fall aufmerksam geworden war. Immer wieder stellt man fest, dass die Sorgeberechtigen in/mit ihrem Alltag überlastet sind, so dass dies zu einer geringeren Priorisierung der Mundgesundheit ihrer Kinder führt. Das multiprofessionelle Zusammenspiel von ÖGD, Schule, Schulsozialarbeit und niedergelassener Kollegin führte dann auf der Basis des Einverständnisses zu einem Erfolg.
Die Kinderschutz-Leitlinie war auch Thema auf Ihrem diesjährigen BZÖG-Kongress in Kassel.
Genau! Denn es geht darum, die Empfehlungen einem möglichst breiten Kollegenkreis bekannt zu machen.
Die Fragen stellte Gabriele Prchala.