Die zahnärztliche Versorgung steht am Scheideweg
Von einem war in den Warnungen, die die zahnärztlichen Standesvertreter im Hinblick auf die nahende Entscheidung zum Terminservice- und Versorgungsgesetz aussprachen, nicht die Rede: einem Paradigmenwechsel in der zahnärztlichen Versorgung, der sich alsbald einstellen könnte, wenn der Einstieg von Finanzinvestoren in die zahnmedizinische Versorgung ungebremst weitergeht.
Paradigmenwechsel sind die seltenen Augenblicke, in denen sich Grundlegendes ändert. Im Rahmen von Festreden werden sie gern erwähnt – nicht selten bleibt es bei zwar wohlklingenden, aber bemühten Gedankenkonstrukten. Paradigmenwechsel zu verkünden schafft heute kaum noch Aufmerksamkeit, weil inzwischen alle Akteure irgendeinen mehr oder minder bedeutungsarmen Paradigmenwechsel verkünden. Die inflationäre Verwendung entwertet den Begriff und ist dann leider denjenigen im Weg, die tatsächlich auf etwas Grundlegendes hinzuweisen haben.
Dennoch: Eßer spricht von nichts Geringerem als einem handfesten Paradigmenwechsel in der zahnmedizinischen Versorgung, über den das TSVG demnächst entscheiden wird. Es geht darum, ob Investmentgesellschaften die zahnärztliche Versorgung als Kapitalanlageobjekt zum Erwirtschaften von Renditen benutzen dürfen oder nicht. Diese eigentlich zunächst harmlos wirkende Frage ist jedoch eingebettet in einen weit tieferen Zusammenhang, in dem es um das Primat in der zahnärztlichen Versorgung geht. Soll die Versorgung künftig weiter nach den Prinzipien ärztlicher Berufsausübung oder nach den Gesetzen der Betriebswirtschaft organisiert werden?
Der Einfluss von Industrie und Politik
Die Frage ist nicht neu – seit den 1990er-Jahren proklamieren die auflagenstarken Industrie-gesponserten Dentalmedien den Zahnarzt als Unternehmer. Der Zahnarzt sei nicht nur Arzt, er müsse auch betriebswirtschaftlich denken – dazu gehöre modernes Markenimage, Werbung, Patientenselektion über gezieltes Marketing und letztlich das ganze Arsenal unternehmerischen Handelns. Der Hintergrund ist klar: Je mehr Umsatz in den Praxen erzielt wird, desto mehr verdienen die Firmen mit. Da der Arzt – anders als ein Unternehmer – weit schwieriger auf umsatzsteigernde Überversorgungskonzepte anzusprechen ist, wird der Markt in kurzen Zyklen mit vorgeblichen Innovationen geflutet. So entsteht der Eindruck von überbordender Innovationskraft: Alles wird immer schneller, besser, leistungsfähiger. Auch die Botschaft, die Kaufdruck erzeugen soll, ist klar: Arbeitest Du noch mit dem Equipment von gestern oder gehst Du mit dem Fortschritt? Der Unternehmer wird das ganze Marketinggeklingel der Industrie als willkommene Verkaufsunterstützung beim Kunden (vormals Patienten) einsetzen. Der Arzt ist wesentlich renitenter und fragt kritisch nach dem konkreten Nutzen einer Innovation. Wo liegt der Vorteil für Diagnostik, Therapie, Workflow in der Praxis? Bei näherem Hinsehen entpuppt sich dann vieles als substanzarme Neuauflage vorhandener Produkte. Nebenher bemerkt: Weil eben die Botschaft „Fortschritt“ so oft mit leeren Versprechungen verbunden ist, darf es beispielsweise auch nicht verwundern, wenn der Hype um die Digitalisierung aus ärztlicher Sicht immer etwas misstrauisch beäugt wird.
Doch nicht nur von der Dentalindustrie wird der Zahnarzt gern in die Unternehmerrolle gedrängt. Auch vonseiten der Politik spricht man ihn bevorzugt als Unternehmer an, insbesondere dann, wenn es um die Implementierung wettbewerblicher Elemente in der Versorgung geht. Wettbewerb wird da regelmäßig als Preis- und nicht als Qualitätswettbewerb kommuniziert. Es ist zum großen Teil die Hoffnung auf preisgünstigere „Leistungserbringung“ durch Großversorgerstrukturen und mehr Wettbewerb, die in der Politik für die immer weitere Öffnung der zahnmedizinischen Versorgung für MVZ und Fremdinvestoren sorgt. Es hat sich dort inzwischen eine weitgehend technokratisch-ökonomistische Perspektive auf die „Leistungserbringer“ entfaltet, die lieber mit steuerbaren Parametern wie „Unternehmen“, „Produkt“ beziehungsweise möglichst normierte „Leistungserbringung“ oder „Wettbewerb“ hantiert als mit den vergleichsweise komplexen und nicht normierbaren Pendants „Arzt“, „Behandlung“, „Qualitätswettbewerb“und „beste Versorgung für den Patienten“.
Jede politische Intervention hinterlässt Spuren und so lassen sich die gesetzlichen Regelungen an ihren Ergebnissen messen. Seit im Jahr 2015 arztgruppengleiche MVZ zugelassen wurden, schießen die Zahlen der MVZ-Gründungen in die Höhe. Etwas zeitverzögert entdecken Finanzinvestoren die Chancen der neuen Rahmenbedingungen. Dann dauert es ein wenig, ehe die Strukturen sich etablieren, aber heute lassen sich aus den verfügbaren Daten erste Erkenntnisse ableiten. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob MVZ die Versorgung tatsächlich preiswerter machen können.
Die Versorgung wird teurer
Um diese Frage zu beantworten, hat die KZBV die vorliegenden Abrechnungsdaten von MVZ und Fremdinvestoren-MVZ mit denen der Einzelpraxen und Berufsausübungsgemeinschaften verglichen. Ergebnis: Es gibt teilweise deutliche Unterschiede. Bei Z-MVZ zeigen sich höhere Fallwerte in der Zahnerhaltung, mehr Zahnersatz, mehr Implantate, mehr kostenintensive Behandlungen und nicht zuletzt höhere Eigenbeteiligungen der Patienten. Deutlich sichtbar ist bereits heute: die Konzentration auf Umsatz und Rendite.
Wer im letzten Jahr noch über die mannigfaltigen Vorteile von Großversorgerstrukturen – Skalierungsvorteile durch den günstigeren Einkauf von Materialien, eine bessere Auslastung von Gerätschaften und Behandlungsräumen und so weiter – spekulierte, wird nun eines Besseren belehrt. Die zahnärztliche Versorgung mit Investoren-MVZ wird nicht – wie vielseits erwartet – preiswerter, sondern im Gegenteil teurer! Diese Botschaft sollte gerade auch die Kassen interessieren, unter deren Protagonisten sich ja hartnäckig die Vorstellung hält, mit MVZ ließe sich die Versorgung billiger und besser gestalten. Aber auch die Politik sollte einen Augenblick innehalten und diesen Befund in ihre Überlegungen einbeziehen – niemand kann schließlich daran interessiert sein, ein funktionierendes Versorgungssystem so umzugestalten, dass am Ende Kostensteigerungen stehen – wohlgemerkt ohne mundgesundheitlichen Mehrwert.
Doch bei der anstehenden Entscheidung über die Begrenzung oder Nichtbegrenzung von Fremdinvestoren-MVZ im TSVG geht es mitnichten nur um Kosten. Es geht auch um die Qualität der zahnmedizinischen Versorgung, die sich an der patientengerechten Indikationsstellung misst. Ein Trend, den die jüngsten Zahlen zum Abrechnungsverhalten von Fremdinvestoren-MVZ zeigen, ist die weit höhere Abrechnungsintensität bei Neuversorgungen mit Zahnersatz. Statt präventiv und zahnerhaltend zu behandeln, liegt der Fokus auf profitablen Zahnersatzversorgungen.
Es ist eine zahnmedizinische Binsenweisheit, dass der natürliche, körpereigene Zahn jedem noch so hochwertigen Zahnersatz biologisch haushoch überlegen ist. Genau deshalb hat sich in den letzten Jahrzehnten eine nachhaltige Entwicklung in der Zahnmedizin hin zu verstärkter Prävention mit besserer Mundhygiene (häuslich und professionell als PZR in der Praxis), zur Erhaltung der natürlichen Zähne und zu minimalinvasiven Eingriffen vollzogen. Kleine „Karieslöcher“ werden eben nicht mehr unter Verlust von viel gesunder Zahnsubstanz soweit „ausgebohrt“, bis große Füllungen oder Inlays hineinpassen, sondern minimalinvasiv mit Kunststoffinfiltrationen oder kleinen Kompositfüllungen behandelt. Die Klebebrücke, stabil angeklebt auf dem Nachbarzahn, entwickelt sich zur ernstzunehmenden Alternative für die konventionelle Brückenversorgung. Vorteil: Das mit vergleichsweise viel Verlust an Zahnsubstanz verbundene Präparieren und Überkronen gesunder, aber als Brückenanker benötigter Zähne wird vermieden.
Abschied von der Prävention
Was sich hier in langen Jahren der wissenschaftlichen Forschung und Implementierung in der zahnärztlichen Praxis als sinnvoll und patientengerecht entwickelt hat, wird jedoch nicht mit den Verlockungen schneller Renditeziele zusammenpassen. Während derjenige Zahnarzt, der im Sinne einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung „seinen“ Patienten über Dekaden hinweg sinnvoll betreut, gut und auch auskömmlich präventive Zahnmedizin betreiben kann, entsteht unter der Maxime, Unternehmensrenditen zu erwirtschaften, ein ungleich höherer Handlungsdruck hin zu Maximalversorgungen und profitablen Behandlungen. Und das umso mehr, je stärker die Konkurrenz in städtischen Ballungsräumen ist, wo der Behandler nicht sicher sein kann, ob der urban-mobile Hipster-Patient nicht schon eine Stunde später bei der Nachbarkette auf dem Behandlungsstuhl sitzt und sich eine noch teurere „High end“-Behandlung zum selbstverständlich besten Preis aufschwatzen lässt. Schöne neue MVZ-Welt ...
Es hat gut drei Jahrzehnte gebraucht, um in der Zahnmedizin präventive und minimalinvasive Konzepte samt den dazugehörigen diagnostischen und therapeutischen Mitteln so zu entwickeln und in die breite Anwendung zu überführen, dass man heute mit Fug und Recht von einem echten Paradigmenwechsel von der Kuration zur Prävention sprechen kann. Die Erfolge dieser Entwicklung sind hinlänglich bekannt: Kariesrückgang auf breiter Front, mehr erhaltene Zähne und bessere Mundgesundheit bis ins hohe Alter. Im Bereich der GKV ist die Zahl der Füllungsversorgungen seit Langem rückläufig, die Kostenentwicklungen in der zahnärztlichen Versorgung sind seit Jahren unterdurchschnittlich.
Im Gegensatz dazu weisen die Zahlen aus dem Versorgungsgeschehen der MVZ in die entgegengesetzte Richtung. Aufwendige, teure und nicht zuletzt invasivere Versorgungen – übrigens auch mit all ihren Risiken – stehen im Fokus der Investoren. Wird dem Trend zu immer mehr Investoren-MVZ nicht Einhalt geboten, sind wir dabei, die Erfolge einer präventionsorientierten und immer minmalinvasiver vorgehenden Zahnmedizin zu verspielen und das Rad der Entwicklung zurückzudrehen.
Die Entwicklung zu mehr Mundgesundheit in unserem Land hat sich nicht mit renditeorientierten Investoren-MVZ, sondern mit einer intakten Struktur niedergelassener Zahnärzte vollzogen. Warum nur – so muss man fragen – will man ein gewachsenes und hervorragend funktionierendes System in so radikaler Weise verändern? Das käme einem Paradigmenwechsel gleich – allerdings in eine Richtung, die niemand wirklich wollen kann.