Ernst Weinmann – Der „Henker von Belgrad“
Während das Gros der Täter unter den Zahnärzten lange Zeit unbekannt blieb und erst im Rahmen des hier referierten Forschungsprojekts in den Blickpunkt der Fachöffentlichkeit geriet,2 gehört Weinmann zu den Ausnahmen. Dies erklärt sich durch seine sehr spezielle Biografie und seinen dramatischen Lebenslauf.
Weinmann wurde am 16. April 1907 im baden-württembergischen Frommenhausen (Kreis Tübingen) als Sohn des Lehrers Gustav Weinmann und seiner Frau Albertine geboren.3 Der Vater fiel im Ersten Weltkrieg, als Ernst Weinmann zehn Jahre alt war. Nach dessen Tod befand sich die Familie laut Weinmann in finanziellen Schwierigkeiten. Aufgrund dieser Engpässe besuchte Weinmann zunächst die Realschule Rottweil. Im April 1923 trat er eine Volontärstelle bei der I.G. Farben (Werk Rottweil) an, die er bis September 1926 ausübte. Sein Abitur legte er nach eineinhalbjähriger Vorbereitung nachträglich im Frühjahr 1928 an der Oberrealschule Tübingen ab. Danach nahm er das Studium der Zahnheilkunde an der Universität Tübingen auf4 – letztere war zu dieser Zeit bereits stark rechtskonservativ, nationalistisch und antisemitisch geprägt.
Im Frühjahr 1930 bestand er die Vorprüfung und im Herbst 1931 das zahnärztliche Staatsexamen, jeweils mit der Note „sehr gut“. Im Dezember wurde er mit der Arbeit „Klinische Untersuchungen über die zahnärztliche Diathermie“5 ebenfalls mit der Note „sehr gut“ zum Dr. med. dent. promoviert. Bis Januar 1932 war er Volontär an der Chirurgischen Universitätsklinik Tübingen. Bereits zwei Monate später ließ er sich als Zahnarzt in eigener Praxis in Tübingen nieder. Am 5. Mai 1934 heiratete er Wilhelmine Glatz.6
Mit 17 Jahren will er der NSDAP beigetreten sein
Weinmanns Geburtsjahrgang 1907 macht ihn zum Angehörigen der sogenannten „Kriegsjugendgeneration“, die den Ersten Weltkrieg bewusst miterlebte, aufgrund ihres Alters aber nicht mehr daran teilnahm. Diese verpasste „Chance auf Bewährung“, der Tod von Angehörigen im Feld, der durch die Niederlage 1918 ideologisch sinnlos geworden war, sowie die Probleme der frühen Weimarer Zeit führten häufig zur ideologischen Radikalisierung.7 Ähnliches gilt auch für die in dieser Reihe bereits behandelten SS-Zahnärzte Helmut Kunz, Hermann Pook und Walter Sonntag – sie wurden allesamt im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren.8
Eigenen Angaben zufolge wurde Weinmann schon in seiner Jugend – vor allem auf kommunaler Ebene – politisch aktiv. Er benennt seine Tätigkeit bei der I.G. Farben und den Einfluss zweier dort tätiger Ingenieure sowie einiger Arbeiter als ersten Berührungspunkt mit dem Nationalsozialismus.9 1924 sei er im Alter von 17 Jahren der Landesleitung Württemberg der NSDAP beigetreten. Außerdem schreibt er sich selbst die Beteiligung an der Neugründung der Partei nach dem Verbot 1923 sowie die Mitbegründung der Ortsgruppe Rottweil im Jahr 1925 zu, als deren Kassierer er bis 1927 fungierte.10 Seit 1925 war er auch Mitglied der Sturmabteilung (SA).11 Weinmanns offizieller NSDAP-Beitritt ist auf den 27. Juli 1927 mit der Mitgliedsnummer 70.136 datiert,12 obwohl er später behauptete, dass seine Anmeldung bereits 1924 erfolgt sei.13
Während seines Studiums trat Weinmann dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) bei. Nach seinem Studienabschluss folgte 1931 der Eintritt in den Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB). 1932 wurde er mit Beginn seiner Praxistätigkeit als Zahnarzt zum Zellenleiter der Ortsgruppe Tübingen der NSDAP ernannt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Weinmann Ortsgruppenleiter und stellvertretender Kreisleiter sowie Fraktionsführer der NSDAP im Gemeinderat Tübingen.14
In dieser Funktion gehörte er dem im Wintersemester 1933/34 etablierten „Führerrat“ der Universität Tübingen an, deren fünf Mitglieder den Rektor in allen wichtigen Angelegenheiten berieten. Darüber hinaus konnte er durch seine Funktion in der NSDAP und als „Ehrenrichter“ des sogenannten „Ehrenrats“ der Universität in diese „hineinregieren“.15 1935 wurde er außerdem zum 1. Beigeordneten des Oberbürgermeisters von Tübingen ernannt und fungierte damit als dessen Stellvertreter.16
Um die 300 Zahnärzte waren in der Waffen-SS
Zusammen mit seinem Bruder Erwin wurde Ernst Weinmann von dem Arzt, späteren Reichsstudentenführer und SS-General Gustav Adolf Scheel für die SS angeworben.17 1936 wurde Ernst Weinmann Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes (SD) der SS als Leiter der Außenstelle Tübingen,18 obwohl er der SS erst im Juni 1938 beitrat.19 Dies passt ins Gesamtbild seiner beruflichen und politischen Laufbahn. Darüber hinaus ist er zu den prototypischen Vertretern des SD zu zählen. Die späteren Angehörigen des SD zeichneten sich insbesondere durch die folgenden Charakteristika aus: Sie stammten mehrheitlich aus der sozialen Mittelschicht, waren nach 1900 geboren und in der Weimarer Zeit Angehörige in antidemokratischen beziehungsweise rechten Verbänden und Organisationen. Fast die Hälfte verfügte über akademische Bildung, knapp ein Drittel war promoviert und mehr als zwei Drittel waren der NSDAP bereits vor dem 30. Januar 1933 – der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler – beigetreten. Nach der „Machtergreifung“ gelangten viele von ihnen innerhalb der SS in Positionen, in denen sie nicht nur „Schreibtischtäter“ oder Technokraten waren, sondern im Gegenteil ihre Weltanschauung vor Ort aktiv „in die Praxis“ umsetzen konnten.20 Insgesamt schlossen sich etwa 1.500 Zahnärzte aus dem „Altreich“ der SS an, darunter 300 im Dienst der Waffen-SS.21
Der Höhepunkt der kommunalpolitischen Karriere Weinmanns folgte am 28. Juli 1939 mit seiner Ernennung zum Oberbürgermeister der Stadt Tübingen im Alter von nur 32 Jahren, womit er seine Tätigkeit als Zahnarzt beendete.22 Hier zeigt sich einmal mehr die Priorität, die Weinmann seiner politischen Karriere im Vergleich zur zahnärztlichen Praxistätigkeit zukommen ließ. Lange übte er die Geschäfte des Oberbürgermeisters jedoch nicht aus, denn bereits im April 1941 wurde Weinmann zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei (Sipo) und des SD in Belgrad versetzt.23 Ihm kam dort die Position des Verbindungsoffiziers zum deutschen Militärbefehlshaber für Serbien zu,24 in der er die Rolle eines Vermittlers und Beraters einnahm. Darüber hinaus war er in die „Maßnahmen“ zur Lösung der „Judenfrage“ in Serbien organisatorisch eingebunden.25 Zugleich wurde er 1942 „Umsiedlungskommissar“ für Serbien.26
In diesen Funktionen war er bis 1944 mitverantwortlich für die Ermordung sowie die zwangsweise Umsiedlung, Deportation und Verschleppung Hunderttausender Menschen. Darüber hinaus war er in die Terror-, Vernichtungs- und Vergeltungsmaßnahmen der Wehrmacht gegen die serbische Zivilbevölkerung eingebunden. Zwar wurden die Aktionen hauptsächlich von der Wehrmacht ausgeführt, jedoch leisteten Sipo und SD bürokratische wie personelle Unterstützung, etwa bei der Registrierung von politisch unliebsamen Personen, Juden und „Zigeunern“, der Stellung von Geiseln sowie Erschießungs- und Vernichtungsmaßnahmen (Ende Dezember 1941 gab es im deutsch besetzten Serbien keine männlichen Juden mehr).27 Auch hat Weinmann selbst gelegentlich Kommandos vor Ort geführt, beispielsweise zur Ausschaltung von feindlichen Radiosendern und „Partisanen“.28
Eingebunden in den Mord Hunderttausender
Die Beurteilung von Weinmanns Tätigkeit in Belgrad, die 1944 zu seiner Beförderung zum SS-Obersturmbannführer (vergleichbar dem Oberstleutnant der Wehrmacht) führte,29 spricht eine eindeutige Sprache: „W. ist einer der besten Mitarbeiter des BdS [Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD]. [...] Die ihm gestellten Aufgaben hat er unter schwierigsten Verhältnissen durch seine unermüdliche Einsatzbereitschaft und seine Fähigkeiten gelöst. Am Gelingen vieler Unternehmen [...] hat er entscheidenden Anteil.“30
Auch wenn die Tatbeteiligungen Weinmanns nicht mehr detailliert aufgeschlüsselt werden können, muss er bei den Verbrechen eine solch exponierte Rolle eingenommen haben, dass er von der Bevölkerung mit dem Beinamen „Henker von Belgrad“ belegt wurde.31 Darüber hinaus hätte es für Weinmann eine Alternative gegeben, denn die Stadt Tübingen versuchte bereits ab 1942, ihren Bürgermeister zurückzuholen. Die Initiativen scheiterten, auch weil Weinmann selbst in seiner Position in Serbien bleiben wollte, um seine SS-Karriere zu befördern.32
In Belgrad verurteilt und hingerichtet
Seine Rückkehr ins Amt des Oberbürgermeisters von Tübingen erfolgte erst am 10. Oktober 1944.33 Dort war er noch ein halbes Jahr tätig, bis er unter dem Vorwand, an den Kämpfen deutscher Truppen teilnehmen zu wollen, nach Bayern flüchtete.34 Einige Monate später kehrte er allerdings zurück und stellte sich der französischen Besatzungsmacht,35 die ihn verhaftete und an Jugoslawien auslieferte.
Täter und Verfolgte
Die Reihe „Zahnärzte als Täter und Verfolgte im ‚Dritten Reich‘“ läuft das gesamte Kalenderjahr 2020. In der zm 14/2020 folgen Helmut Johannsen und Georg Michelsohn, in der zm 15-16/2020 Hermann Euler und Hermann Nelki.
In Belgrad wurde er im Dezember 1946 wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt und am 20. Januar 1947 hingerichtet.36
Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen
Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MTI 2,
Wendlingweg 2, 52074 Aachen
dgross@ukaachen.de
Fußnoten:
1 BStU, MfS-HA IX/11, ZM 1603, Akte 1, Bl. 262;
2 Zur Forschungssituation und dem sukzessiven projektbezüglichen Erkenntnisgewinn vgl. Schwanke et al., 2016; Groß et al., 2018; Groß, 2018; Groß, 2019, 157–174; Groß/Krischel, 2020, 24–27;
3 BA Berlin, R1501/212807: Lebenslauf Weinmanns, 1939; BA Berlin, SSO Weinmann: Stammblatt;
4 Wildt, 2003, 91f.;
5 Weinmann, 1931;
6 BA Berlin, R1501/212807: Lebenslauf Weinmanns, 1939;
7 Herbert, 1996, 43ff.; Wildt, 2003, 24ff.; Banach, 2002, 60f.;
8 Heit et al., 2019; Groß, 2020; Groß/Rinnen, 2020; Rinnen et al., 2020;
9 BStU, MfS-HA IX/11, ZM 1603, Akte 1, Bl. 265f.;
10 BA Berlin, R1501/212807: Lebenslauf Weinmanns, 1939;
11 BA Berlin, SSO Weinmann: Beförderungsvorschlag, 1944;
12 BA Berlin, R 9361-IX, KARTEI/47570661;
13 BA Berlin, R1501/212807: Lebenslauf Weinmanns, 1939
14 BA Berlin, R1501/212807: Lebenslauf Weinmanns, 1939;
15 Adam 1977, 51f. u. 77;
16 BA Berlin, R1501/212807: Lebenslauf Weinmanns, 1939;
17 Wildt, 2003, 178f.;
18 Lang, 1992, 210; BA Berlin, R1501/212807: Lebenslauf Weinmanns, 1939;
19 BA Berlin, R1501/212807: Lebenslauf Weinmanns, 1939; BA Berlin, SSO Weinmann: Stammblatt;
20 Wildt, 2003; Banach, 2002; Herbert, 1996;
21 Westemeier et al., 2018;
22 BA Berlin, SSO Weinmann: Weinmann an SS-Personalkanzlei, 1939; Lang, 1992, 208;
23 BA Berlin, SSO Weinmann: Beförderungsvorschlag, 1944;
24 BStU, MfS-HA IX/11, ZM 1603, Akte 1, Bl. 247;
25 Manoschek, 1995, 107;
26 BStU, MfS-HA IX/11, ZM 1603, Akte 1, Bl. 246f.;
27 BStU, MfS-HA IX/11, ZM 1603, Akte 1, Bl. 235–240; Lang, 1992, 216; Manoschek, 1995, 107;
28 BStU, MfS-HA IX/11, ZM 1603, Akte 1, Bl. 246; Lang, 1992, 217;
29 BA Berlin, SSO Weinmann: Stammblatt;
30 BA Berlin, SSO Weinmann: Beförderungsvorschlag, 1944
31 BStU, MfS-HA IX/11, ZM 1603, Akte 1, Bl. 260ff.;
32 Lang, Ernst Weinman. BA Berlin, SSO Weinmann: Uk.-Stellung; BA Berlin, R1501/212807: Württembergischer Innenminister, 13.08.1942; BA Berlin, R1501/212807: Württembergischer Innenminister, 07.09.1942;
33 BA Koblenz, B/305/24245: Staatsministerium Baden-Württemberg, 1959;
34 Lang, 1992, S. 219f.;
35 BA Koblenz, B/305/24245: Landessozialgericht Baden-Württemberg, 1959;
36 BA Koblenz, B/305/24245: Bericht Verurteilung Weinmanns, 1960; BA Koblenz, B/305/24245: Landessozialgericht Baden-Württemberg, 1959