„Es soll Spaß machen, morgens zur Arbeit zu gehen“
Wir sind beide aus Hannover, haben zusammen in dieser Stadt studiert und uns war nach dem Studium relativ klar, dass der Weg in die eigene Praxis geht“, erzählt Hannah Hettler. „Ich habe in vier Praxen gearbeitet und leider viele negative Erfahrungen gesammelt.“ Schon am ersten Tag als Assistenzärztin war sie dermaßen enttäuscht, dass sie abends Bewerbungen schrieb. Ihre Haupt-Kritikpunkte: „Der Umgang mit Assistenzärzten ist in vielen Zahnarztpraxen nicht wirklich gut. Man bekommt oft nur einfache Aufgaben. In einer Praxis durfte ich teils nur die Prophylaxe-Aufsicht machen, was frustrierend war. Und die Bezahlung ist selten gut. Meine Zeit als Assistenzärztin hat mich darin bestärkt, mich selbstständig zu machen.“
Beide hatten genaue Vorstellungen davon, wie die künftige Praxis aussehen sollte: Mindestens vier Zimmer sollte sie haben, weil sie auch Prophylaxe anbieten wollen. „Ältere Praxen geben das oft nicht her. In den Annoncen steht oft, dass die Praxis erweiterbar ist. Aber man fragt sich, wohin man denn erweitern soll, vielleicht in den Garten? Und große Praxen wurden nicht angeboten“, resümiert Luisa Kleiner die Standortsuche. Die beiden Freundinnen gingen die Sache entspannt an: „Wir sagten: Wir gucken einfach mal. Und am Ende haben wir nur fünf Praxen angeschaut.“
In Hannover wollten sie nicht unbedingt bleiben. „Die Zahnarztdichte in der Stadt ist einfach sehr groß. Wir haben uns also gefragt, wie weit wir den Radius um Hannover stecken möchten. So sind wir nach Neustadt gekommen.“ Schon bei der Besichtigung stand fest: Das könnte die Traum-Praxis werden. Ende April wurde der Kaufvertrag aufgesetzt. Hettlers Vater, ein Rechtsanwalt, beriet die beiden. „Das Geschäftliche lernt man an der Uni leider nicht.“ Zum 1. Juli haben Hettler und Kleiner die Praxis dann offiziell übernommen. Der alte Inhaber ging in Rente, steht aber noch für Fragen der beiden zur Verfügung.
Wir wollten keine Übergangszeit
Neustadt hat mit rund 45.000 Einwohnern ein großes Einzugsgebiet, weil es rundherum viele kleine Dörfer gibt. Es gibt ein paar Zahnarztpraxen, aber die Konkurrenzsituation ist nicht beängstigend. Die beiden Jungunternehmerinnen sind sicher: „Der Start hier war aufgrund der Übernahme viel einfacher als es bei einer Neugründung gewesen wäre – insbesondere in diesem Jahr.“
Die Übergabe wurde schnell abgewickelt: „Wir hatten zuerst überlegt, ob eine Übergangszeit Sinn machen würde, sind dann aber davon abgekommen. Denn wenn der Vorgänger oder die Vorgängerin da gewesen wäre, hätten wir im Hintergrund gestanden und wären nur so mitgelaufen. Wir wollten etwaiges Unwohlsein umgehen.“ Also wurde der Schnitt schnell und kollegial vollzogen.
Sie haben elf Mitarbeiter und einen Azubi übernommen. „Viele aus dem Team arbeiten bereits über Jahrzehnte in der Praxis“, sagt Hettler. „Der Großteil ist älter als wir, das war für das Team überraschend, aber auch für die Patienten.“ Eine Mitarbeiterin ist sogar länger hier, als Hettler alt ist. Der ehemalige Chef war Mitte 60 – die beiden sind 29 und 30 Jahre alt. Die Mitglieder des Teams sind zwischen zehn und 30 Jahren dabei, fast alle haben ihre Ausbildung in der Praxis gemacht und sind geblieben.
„Der Großteil war von Anfang an sehr offen, sie haben sich auf uns gefreut.“ Doch es gab auch ein wenig Skepsis. „Wir haben mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Gespräche geführt, damit alle die Gelegenheit hatten ‚unter vier Augen‘ mit uns sprechen zu können. Wir möchten, dass jeder auch Kritik üben kann, wir wollen, dass jeder Mitarbeiter wahrgenommen und fair behandelt wird. Auf Augenhöhe mit den Mitarbeitern zu sein, ist für uns das A und O. Es soll Spaß machen, morgens zur Arbeit zu gehen.“
Patienten auf dem Land sind oft sehr treu
Auch für die Patienten waren die Zahnärztinnen eine Überraschung. „Sie sind aber jung!“, haben sie oft gehört. Gefolgt von der Frage, ob man mal schätzen dürfe ... Am Ende konnten die meisten Stammpatienten durch die Qualität der Arbeit überzeugt werden. Erleichternd kommt hinzu, dass sich aus Sicht der beiden Neuen, die sowohl die Arbeit in der Stadt als auch auf dem Land kennen, die Patienten durchaus unterscheiden: „Es ist normal, dass bei einem Zahnarztwechsel ein paar Patienten gehen. Damit haben wir gerechnet, und das ist auch nicht schlimm. In der Stadt merkt man oft einen hohen Patientenwechsel, die Patienten auf dem Land sind hingegen oft sehr treu.“
Anfangs sahen die beiden Zahnärztinnen gelegentlich in fragende Gesichter im Team: „Warum machen die das so?“ Doch neu heißt nun mal auch anders. „Es gab kein OPG in der Praxis und so haben wir eines gekauft, weil es Standard ist. Und das Team hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass wir mehr Bilder machen als unser Vorgänger.“ Was noch neu ist: „Wir machen keine Amalgamfüllungen mehr, das wird in der Uni nicht mehr wirklich gelehrt und entspricht nicht unseren Ansprüchen. Bevor wir kamen, wurden in der Praxis viele Amalgamfüllungen gelegt. Das war eine Umstellung für Mitarbeiter und Patienten.“
Außerdem werden ausführliche Kostenbesprechungen durchgeführt. „Wir wollen, dass sich hinterher keiner ärgert. Das ist ein wichtiger Punkt für uns. Ich kenne das schließlich von mir, ich möchte ja auch wissen, wie viel ich bezahlen muss, und das Gefühl haben, ehrlich behandelt zu werden.“ Die beiden führten Aufklärungsbögen für unter anderem Füllungen und Wurzelbehandlungen ein: „Das ist viel Papierkram, aber eben wichtig.“
„Es gab viele Fragen in der Startphase und extrem stressige Tage, aber wir haben noch nie schlecht geschlafen. Wir wissen, dass Entscheidungen bei uns liegen und das empfinden wir nicht als Belastung.“ Mt der Übernahme seien sie nicht bei null gestartet: „Das wäre eine ganz andere Last gewesen.“
Wenn es mal wo hakt, halten sie sich vor Augen, dass das, was sie gerade machen, schon viele Zahnärzte vor ihnen geschafft haben. „Zahnmedizin wird immer existieren, auch mit Corona, das wussten wir immer und das war beruhigend.“ Ihr Ratschlag an alle, die von einer eigenen Praxis träumen: „Seid mutig und geht den Schritt einfach. Man darf nicht an sich selbst zweifeln, sondern muss an seine Praxis glauben und daran, dass man mit neuen Aufgaben mitwächst und sie bewältigen kann.“