Intraoralscans – keine Videoaufnahmen für jedermann
Wohl kaum ein Besucher einer dentalen Fachausstellung in den vergangenen Jahren wird sie übersehen haben: Auf großen Bildschirmen bauen sich scheinbar von Zauberhand gesteuert unablässig neue Gebisse auf: in Echtzeit auf den Bildschirm übertragene Bilder eines Intraoralscanners. Wer den Messerundgang für einen digitalen Blick auf das Innere seiner Mundhöhle unterbrechen will, darf sich gern von der freundlichen Mitarbeiterin des Ausstellers scannen lassen.
Digitale Technik kann so einfach sein und nichts deutet in der geradezu spielerischen Präsentation der Scanner darauf hin, dass zur korrekten Anwendung der Technik fundierte zahnmedizinische Kenntnisse benötigt werden. Von dieser scheinbaren Leichtigkeit des digitalen Fortschritts haben sich offensichtlich auch einige Richter beeindrucken lassen, die über die Rechtmäßigkeit der Erstellung von Intraoralscans durch Nicht-Zahnärzte befinden mussten. So hatte das Landgericht Düsseldorf über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eines Kieferorthopäden gegen ein Start-up-Unternehmen zu verhandeln. Das Start-up vertrieb Aligner übers Internet – die Abdrucknahme sollte digital über Intraoralscans in Apotheken erfolgen.
Die Richter halten Scans für Videoaufnahmen
Im Ergebnis kam das Gericht – nach der im Eilverfahren nur erfolgenden summarischen Prüfung – zu der Auffassung, Intraoralscans seien eine den Videoaufnahmen vergleichbare Leistung, die prinzipiell jedermann durchführen könne: „Bei Intraoralscans in der verfahrensgegenständlichen Form durch Fertigung von Videoaufnahmen handelt es sich nicht um eine Zahnärzten nach dem ZHG vorbehaltene Leistung; diese erreichen nicht einmal die Qualität der delegationsfähigen Leistungen nach § 1 Abs. 5 ZHG wie insbesondere Herstellung von Röntgenaufnahmen oder Situationsabdrücken. Weder liegt ihnen eine der Strahlungsexposition bei Röntgenaufnahmen vergleichbare Gesundheitsgefahr inne noch findet eine der Herstellung von Situationsabdrücken vergleichbare Arbeit im Mundraum des Patienten statt. Vielmehr sind sie technischen Messungen im Vorfeld vergleichbar, die Apothekern nicht untersagt sind“ (LG Düsseldorf, Urteil vom 2. Oktober 2019, Az.: 12 O 184/19). Das Oberlandesgericht Düsseldorf bestätigte diese Auffassung in der Folgeinstanz mit einem aktuellen Urteil vom 19. Mai 2020 (OLG Düsseldorf, Az.: I-20 U 127_19).
Die BZÄK stellte demgegenüber in einem Positionspapier klar, „dass es sich bei der digitalen Abformung des Mundinnenraums von Patienten per Intraoralscan um Ausübung der Zahnheilkunde gemäß Paragraf 1 Absatz 3 Zahnheilkundegesetz handelt“. „Es ist die Aufgabe der (Landes-)Zahnärztekammern, die Einhaltung der Berufspflichten zu überwachen und dabei auch entsprechend dem Zahnheilkundegesetz zu definieren, welche Maßnahmen insbesondere auch zur Feststellung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten gehören“, erklärte BZÄK-Vizepräsident Prof. Dr. Dietmar Oesterreich gegenüber den zm.
Diese Klarstellung sei vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung notwendig gewesen. Die Gerichte hätten den komplexen Workflow und die damit verbundene Verantwortung, die sich hinter der scheinbar unkomplizierten Anwendung eines Intraoralscanners verbirgt, nicht berücksichtigt. Da es bei dieser Technik noch keinen etablierten Best-Practice-Standard und auch keine Leitlinie zur Anwendung des Intraoralscanners gebe, habe eine grundlegende Standortbestimmung seitens der Zahnmedizin auch für die Rechtsprechung gefehlt, so Oesterreich.
Tatsache ist, dass die Ergebnisse eines Intraoralscans Grundlage für eine Diagnostik und eine gegebenenfalls erforderliche Therapie sind. Dabei muss der Zahnarzt auch die Qualität der Diagnostik unter Berücksichtigung der klinischen Situation bewerten. Verbunden damit ist dann auch immer die Frage der Haftung für mögliche Fehldiagnosen oder sogar übersehende Befunde.
Hintergrund für die gerichtlichen Auseinandersetzungen bilden unter anderem Bestrebungen einiger Internet-Aligneranbieter, ein Geschäftsmodell zu etablieren, das neben eigenen Alignershops weitere Vertriebsstandorte bei geeigneten Partnern mit breitem Kundenverkehr wie beispielsweise Apotheken umfasst. Zwingende Voraussetzung für ein solches Geschäftsmodell ist, dass die Datenerhebung der Gebissanatomien mit einem Intraoralscan auch durch Nichtzahnärzte erfolgen kann. Die beispielsweise von Mitarbeitern einer Apotheke gescannten Gebissdaten werden dann an Vertragszahnärzte des Aligneranbieters über-mittelt, die die Verwendungsfähigkeit der Daten beurteilen und über eine Alignertherapie entscheiden sollen. Die prinzipielle Rechtmäßigkeit eines solchen Vorgehens hatte das Landgericht Düsseldorf bejaht, da nach Ansicht der Richter sichergestellt sei, dass zahnärztliche beziehungsweise kieferorthopädische diagnostische und therapeutische Leistungen ausschließlich von Zahnärzten und Kieferorthopäden erbracht werden.
Für die Diagnose muss man den Patienten sehen
Experten zufolge ist es jedoch gar nicht möglich, die Verwendungsfähigkeit von Scandaten zu beurteilen, ohne den Patienten gesehen zu haben. Dr. Ingo Baresel, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für digitale orale Abformung (DGDOA), bekräftigt diese Position gegenüber der zm: „Ob die gescannten Daten die Gebissanatomie des Patienten richtig wiedergeben, kann letztlich nur derjenige wissen, der selbst gescannt hat. Eine Beurteilung der Qualität der Scandaten per ‚Ferndiagnose‘ ist nicht möglich.“
Vor diesem Hintergrund betont die BZÄK in ihrem Positionspapier, dass ein Intraoralscan im Unterschied zur Auffassung des Landgerichts Düsseldorf keineswegs nur als technische Vorbereitung einer zahnärztlichen Behandlung aufgefasst werden könne: „Der Zahnarzt muss unmittelbar die Qualität oder mögliche Scanfehler erkennen können, so dass der Scanvorgang selbst bereits Bestandteil der Behandlung ist.“ Weiter heißt es: „Eine korrekte Ausführung erfordert zwingend zahnmedizinische Fachkenntnisse, da ein ‚Laie‘ nicht beurteilen kann, ob alle relevanten Bereiche ausreichend erfasst worden sind. Der Intraoralscan darf deshalb nur durch einen Zahnarzt oder unter Aufsicht und nach Weisung eines Zahnarztes erbracht werden. [...] Unzureichend ausgeführte Scans können zu unpräzisen Medizinprodukten führen, die Schäden an oralen Strukturen und Zähnen verursachen und zu Fehlbehandlungen führen können.“
Dass die Geschäftsmodelle einiger Internet-Aligneranbieter riskant für die dort behandelten Patienten werden können, zeigt sich inzwischen auch in der Praxis. „Immer häufiger kommen Patienten mit Komplikationen nach Alignerbehandlungen durch Internetanbieter zu uns“, berichtet etwa der Bundesvorsitzende des Berufsverbands der Deutschen Kieferorthopäden (BDK), Dr. Hans-Jürgen Köning. Köning behandelt selbst drei ehemalige Internet-Patienten in seiner Praxis und weiß auch von Fällen bei Kollegen. Bei einer Patientin, die im Internet Aligner geordert hatte, fiel aufgrund einer unvollständigen Diagnostik (kein OPT) nicht auf, dass bei Behandlungsbeginn wohl eine Parodontitis mit generalisiertem horizontalem Knochenabbau vorlag. Die Folge: Unter der Alignertherapie lockerten sich die Zähne – die Patientin hatte letztlich Glück, weil sie sich aufgrund ihrer Beschwerden rechtzeitig an die zuständige Zahnärztekammer gewandt hatte, die sie an einen Kieferorthopäden verwies. Ein Zahnverlust konnte gerade noch verhindert werden. „Die Patientin hätte ohne vorangegangene Parodontitistherapie auf keinen Fall eine Alignerbehandlung bekommen dürfen“, sagt Köning. Aber wer röntgt schon in einem Alignershop oder in einer Apotheke?
Ohne zahnmedizinische Kenntnisse geht es nicht
Fehlerhafte Daten eines Intraoralscanners könnten bei einem anderen Patienten eine Rolle gespielt haben: Hier kam es durch überstehende Alignerränder zu Reizungen des Zahnfleisches, was zu einer massiven Gingivarezession führte. „Überstehende Alignerränder wären bei einer Anprobe und bei Verlaufskontrollen in der Zahnarztpraxis auf jeden Fall aufgefallen. Doch wenn die Patienten die Schienen per Post nach Hause geschickt bekommen, bleibt das unbemerkt“, kommentiert Köning. Um den Schaden zu beheben, muss der Patient nun zum Chirurgen – ein Weichgewebstransplantat soll das verlorene Zahnfleisch ersetzen.
Kieferorthopäden wie Köning, zahnärztliche Berufsverbände und die BZÄK beobachten seit geraumer Zeit die Entwicklungen rund um die Aligneranbieter im Internet mit großer Sorge. Sie befürchten, dass durch die Geschäftsmodelle mit nichtzahnärztlichen Partnern die grundlegenden Standards zahnmedizinischer Diagnostik und Therapie ausgehebelt werden. Was bei diesen Internetanbietern hip und zeitgemäß daherkommt, birgt offenbar unkalkulierbare Risiken für den Patienten, wie die inzwischen ans Licht gekommenen Schadensfälle zeigen.
BZÄK-Vizepräsident Oesterreich warnt deshalb eindringlich davor, die zahnmedizinischen Standards aufzuweichen: „Eine solche Trivialisierung der Zahnmedizin kann weder im Interesse eines akademisch über fünf Jahre ausgebildeten Berufsstands sein, noch dient es der Qualitätssicherung – und vor allem nicht dem Patienten.“
Link zum Positionspapier: www.bzaek.de/service/positionen-statements/einzelansicht/digitale-abformung-des-mundinnenraums-per-intraoralscan.html