Interview mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen

„Barrierefreiheit sollte auf derselben Stufe stehen wie Brandschutz“

„Für mich geht es nicht um ‚barrierearm‘, es geht um barrierefrei“, stellt Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, klar. Mit einer Rampe allein sei es nicht getan.

Welche Erfolge für Menschen mit Behinderungen sehen Sie bislang in der Zahnmedizin?

Jürgen Dusel:

Die Einführung des § 22a war gut und absolut notwendig. Denn Menschen mit Behinderungen haben nicht nur den gleichen Anspruch auf medizinische Versorgung wie Menschen ohne Einschränkungen. Sie haben darüber hinaus nach der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen einen Anspruch auf zusätzliche Leistungen, die sie aufgrund ihrer Behinderung benötigen. Mit dem Paragrafen wurde für sie eine Leistung geschaffen, auf die sich die Menschen berufen können. Die Umsetzung dieser rechtlichen Rahmenbedingungen und die Anwendung liegen nun bei den Zahnärztinnen und Zahnärzten.

Was muss noch verbessert werden?

Vorbeugen ist immer besser als heilen – es muss noch mehr Prävention möglich gemacht werden. Und der Personenkreis, für den der § 22a gilt, sollte erweitert werden – zum Beispiel durch den Wegfall der Beschränkung auf den GdB und den Bezug von Eingliederungshilfe. Meine Forderung ist, dass noch mehr auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten eingegangen wird. Konkret sollten auch die Leistungen der Fluoridierung und das Entfernen weicher Belege für sie gratis sein. Klar ist, die Behandlung von Patienten mit Handicap kann aufwendiger sein. Dieser Aufwand sollte auch entsprechend vergütet werden – und zwar nicht mit Pauschalen. Hier brauchen wir individuelle Lösungen.

Was sind dabei die Forderungen an die Politik?

Wir diskutieren viel über Inklusion in der Bildung, vieles ist auch schon umgesetzt worden. Auch die medizinische Versorgung muss inklusiv angegangen werden. Die mangelnde Barrierefreiheit ist ein Qualitätsproblem im Gesundheitswesen. Berührungsängste führen zur Vermeidung von Kontakt. Mehr Anreize und das Wissen können diese mindern. Barrierefreiheit ist ein Qualitätsstandard und sollte den gleichen Stellenwert haben wie zum Beispiel der Brandschutz, der überall erbracht werden muss.

Was sind die Forderungen für und an die Zahnärzteschaft?

Damit Inklusion gelingt, muss es vor allem mehr Fortbildungen zum Thema geben. Diese müssten meiner Meinung nach verpflichtend sein, wie in anderen Bereichen auch. Aufklärung und Wissen können beim Abbau von Berührungsängsten ein wichtiger Schritt sein. Fast 13 Millionen Menschen in Deutschland mit Handicap bilden eine riesige Patientengruppe. Diese ist sehr heterogen – nicht jeder Patient mit Behinderung sitzt im Rollstuhl. Also muss das Wissen darüber schon in die Ausbildung integriert sein und gehört auch in die Approbationsordnung.

In der Praxis ist es wichtig, dass alle Personen dort einen offenen und selbstverständlichen Umgang mit Menschen mit Behinderungen haben. Dafür sind Fortbildungen und Sensibilisierungstrainings für alle – am besten gemeinsam – am hilfreichsten. Wer einmal grundsätzlich verstanden hat, was Inklusion wirklich bedeutet, merkt schnell, wie auch das eigene Leben bereichert wird. Denn man lernt die bisherigen „Selbstverständlichkeiten“ zu hinterfragen und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Bei konkreten Fragen kann auch die Bundesfachstelle Barrierefreiheit helfen.

Wie kann eine Praxis barriereärmer werden?

 Für mich geht es nicht um „barrierearm“. Es geht um barrierefrei! Es geht darum, das Recht auf freie Arztwahl für alle zu sichern – denn dieses Recht gibt es derzeit faktisch für viele Menschen mit Behinderungen nicht. Mit einer Rampe allein ist es da nicht getan. Für Menschen mit Rollstühlen betrifft das zum Beispiel auch eine erreichbare Klingel, einen Fahrstuhl oder die Türbreite. Für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen sind es gute Kontraste, große Schriften und tastbare Markierungen in der Praxis. Von diesen Maßnahmen profitieren auch ältere Menschen. Ein wesentlicher Punkt sind auch die Homepages im Internet, die sehr selten barrierefrei sind, zum Beispiel für blinde Menschen oder Menschen mit Sehbeeinträchtigungen. Menschen mit Lernbeeinträchtigungen wiederum brauchen in erster Linie Informationen in leichter Sprache und eine für sie verständliche Ansprache, während Menschen mit Hörbeeinträchtigungen schriftliche Informationen oder Induktionsschleifenanlagen benötigen. Für letztere ist es auch wichtig, Terminvereinbarungen online zu treffen.

Barrierefreiheit heißt aber auch: Bereitschaft und Offenheit für Patientinnen und Patienten mit Behinderungen. Ich meine ganz konkret die Empathie für sie und ihre Belange in Form von Zeit, Wissen und Geduld. Der erste Berührungspunkt ist dann der Praxisempfang. Hier sollten Mitarbeitende vertreten sein, die auf die besondere Patientengruppe vorbereitet sind. Barrierefreiheit hat eine tiefe soziale Dimension. Auf das Verständnis kommt es an!

Was sind die größten Hindernisse in einer Zahnarztpraxis für Menschen mit Behinderung?

Ich schätze, das sind die Vorbehalte und Berührungsängste. Der Umgang mit Menschen mit Behinderung sollte daher etwas Alltäglicheres werden. Durch Fortbildung, Lehre und auch Kooperationen kann das gelingen. Gemeinsame Erfahrungen und geteilte Erlebnisse unterstützen das. Ein sehr erfolgreiches Beispiel dafür sind die Special Olympics als Sportbewegung auf nationaler und internationaler Ebene. Die Zurückhaltung kann das Problem, dass diese Patienten nicht wie „normale“ Patienten in den Praxen empfangen werden, noch verstärken.

Barrierefreiheit beginnt im Kopf und führt dann natürlich über entsprechende Anpassungen in der Praxis zum Erfolg. Aufgabe der Politik ist es, für mehr Klarheit hinsichtlich der vergütungsrechtlichen Grundlagen zu sorgen.

Die Fragen stellte Laura Langer.

Jürgen Dusel

Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

So wird die Praxis barrierefrei!

digital und analog:

  • barrierefreie Homepage – nutzerfreundlich für alle Patienten

  • Online-Terminvergabe

  • Info-Flyer/Grafiken in großer Schrift, einfacher Sprache, Blindenschrift

  • Induktionsschleifenanlagen

Räumlichkeiten:

  • erreichbare Klingel

  • Rampe

  • Fahrstuhl

  • breite Türen

  • Lichtkontraste/Lichtsignale

  • tastbare Markierung in der Praxis

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