Erich Knoche – Hofzahnarzt in Gotha, Flucht nach Bolivien, Ehrenmitglied der DGKFO
Erich Gunther Knoche, am 13. Juli 1884 als eines von fünf Geschwistern in eine jüdische Familie in Berlin geboren, verließ 1902 das dortige Köllnische Gymnasium mit Reifezeugnis für Prima, um an der Berliner Universität Zahnheilkunde zu studieren. Drei Jahre später, mit nur 21 Jahren legte er sein Staatsexamen ab. Im Anschluss besuchte er in Freiburg/Brsg. zwei Semester lang Vorlesungen zur Philosophie und den Naturwissenschaften und bereitete sich daneben erfolgreich auf die Ablegung der Reifeprüfung (1906) vor, die ihn später zur Aufnahme eines Medizinstudiums berechtigen sollte.2 Nach einer längeren Assistentenzeit ließ sich Knoche zum Jahresbeginn 1909 in Gotha in eigner Praxis nieder, damals noch Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Coburg und Gotha.
Am 19. Juli 1911 erhielt Knoche als einer der Letzten das Prädikat eines „Herzoglich Sächsischen Hofzahnarztes“.3 Der Hofzahnarzt Knoche ging in Gotha einem damals sehr modernen Hobby nach: Er war Mitglied und ab 1920 Schriftführer4 des Herzoglichen Automobilclubs, der sich dem Rennsport verschrieben hatte.5
Hofzahnarzt mit Hobby Autorennsport
Knoche wurde trotz seiner praktischen Tätigkeit schon bald wieder ein eifriger Student, 1915 nahm er in Jena ein Studium der Medizin und Naturwissenschaften auf. In einem Lebenslauf von 1919 berichtete er – immerhin mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet:6 „Während des Krieges habe ich, soweit ich nicht zur Fortsetzung meiner Studien beurlaubt war, die zahnärztliche Abteilung des Reservelazaretts Gotha geleitet.“7 An gleicher Stelle gibt er „Vererbungslehre und Descendenztheorie“ als seine wichtigsten naturwissenschaftlichen Interessen an. 1939 hat er dann in einem Fragebogen sogar als Beruf „Vererbungswissenschaft u. Medizin“ angegeben.8
Bereits 1916 hatte Knoche in der Monatsschrift für Zahnheilkunde eine kurze Mitteilung mit dem Titel „Die Progenie in der Nachkommenschaft Goethes“9 veröffentlicht, 1919 promovierte ihn die Universität Jena zu diesem Thema zum Dr. phil.10 Auch wenn die Gutachten verhalten ausfielen („rite“),11 stießen seine Überlegungen zur Erblichkeit der Progenie auf das zeitgenössische Interesse an degenerativen Aspekten auch in der Zahnheilkunde.12 Knoches Arbeiten schafften es bis in die neuere Goetheforschung.13
In den folgenden Jahren veröffentlichte Knoche zahlreiche wissenschaftliche Studien, bevorzugt zur Orthodontie,14 der Behandlung angeborener Gebissanomalien durch kieferorthopädische Maßnahmen, darunter beispielsweise zur Diagnose und Behandlung der Prognathie.15 Auch akademisch blieb er ehrgeizig: 1924 wurde er an der Universität München zum Dr. med. dent. promoviert. Knoche entfaltete darüber hinaus eine umfassende Lehr- und Vortragstätigkeit. So entstanden aus Fortbildungskursen 1931 „Praktische Beiträge zur prothetischen Keramik“ als Teil der von Otto Walkhoff herausgegebenen Reihe Deutsche Zahnheilkunde.16 Beiträge lieferte er auch für ein weiteres Standardwerk der zeitgenössischen Zahnheilkunde, für das „Handwörterbuch der gesamten Zahnheilkunde“ (1929–1931).17 Auch institutionell engagierte er sich für sein Spezialgebiet, unter anderem als Schriftführer des deutschen Vorbereitungsausschusses für den 2. Internationalen Orthodontischen Kongress in London 1931.18
Gustav Korkhaus (1895–1978) zählte Knoche in seinem Nachruf „zu den Pionieren der deutschen Kieferorthopädie“.19 Genau dieses Prädikat wird auch Korkhaus selbst gerne verliehen, auch wenn dessen Biografie aufgrund seiner aktiven Rolle im Nationalsozialismus inzwischen deutlich differenzierter diskutiert wird.20 Spätere Autoren übernahmen Korkhaus‘ „Ritterschlag“ für Knoche.21
Zum Tee in der Schweiz bei Thomas Mann
1921, nach der Trennung von seiner ersten Frau, verließ Knoche Gotha – vielleicht in einem schicken Sportwagen – und führte in München in der Brienner Str. 8, unmittelbar am Odeonsplatz und damit in bester Lage, eine Praxis für Zahn- und Kiefererkrankungen mit eigenem Röntgenlaboratorium.22 Am 20. April 1922 heiratete er die aus einer angesehenen Wiener Medizinerfamilie stammende Ilse von Frankl-Hochwart (1892–1946).23
Zu seinen prominenten Patienten gehörten, nach Aussage seiner dritten Frau Susanne (gesch. Beer, geb. Angress), „der ganze bayrischen Adel“, aber auch Philosophen und Schriftsteller wie Oswald Spengler (1880–1936), Bruno Frank (1887–1945) und Thomas Mann (1875–1955).24 Mit Mann korrespondierte Knoche auch nach dessen Emigration. Dieser erwähnte ihn mehrfach in seinen Tagebüchern. Im September 1934 besuchte Knoche Mann in der Schweiz.25 Der Schriftsteller notierte: „Zum Thee Dr. Knoche von München und Frau. Interessante Unterhaltung über die Lage in Deutschland.“26 Knoche berichtete ihm von Spenglers Begegnungen mit Hitler und Mussolini sowie Spenglers Einschätzung, dass der „Zusammenbruch des Regimes im Laufe des Winters“ zu erwarten sei.
Während Mann, den literarisch die Faszination am Verfall mit Spengler verband, dessen Sympathien vor allem für den italienischen Faschismus verurteilte,27 nahm Knoche noch 1944 in einem Brief an die Redaktion der Exilzeitschrift „Deutsche Blätter“ Spengler in Schutz: „Ich habe grade (sic!) in den entscheidenden Jahren 1933 bis zu Spenglers Tod 1936 mich seines näheren Umgangs erfreuen dürfen und bin auf Grund vielfacher politischer Gespräche mit ihm der Ueberzeugung, dass sowohl seine Geschichtsauffassung wie besonders seine Einstellung zum Nationalsozialismus ausser von seinen persönlichen Freunden unzutreffend beurteilt wurde und wird.“28 Knoche bot der Schriftleitung einen „kurzen Aufsatz vor allem über seine [Spenglers] innere Beziehung zum Nationalsozialismus“ an.29
Mitte der 1930er-Jahre wurde auch für die Familie Knoche der Alltag in Deutschland immer schwieriger, wie unter anderem die Polizeiakte seiner Frau Ilse, die bei Besuchen ihrer Eltern in Wien immer wieder mit Passproblemen zu kämpfen hat, verdeutlicht.30 Mit den Nürnberger Rassegesetzen wurde auch sie als jüdisch klassifiziert. Spätestens mit dem „Anschluss“ Österreichs lebte sie wieder in München. Knoche hatte seine Auswanderung erst nach der Reichspogromnacht im Jahr 1938 forciert. Mithilfe des befreundeten Bildhauers Josef Erber (1904–2000) konnte sich Knoche verstecken und der Haft in Stadelheim entkommen.31
Von München nach La Paz
Der Entzug der Approbation zwang ihn, seine Praxis aufzugeben. Im Mai 1939 ließ sich Knoche in München katholisch taufen. Ein sogenanntes Besuchsprotokoll des Ehepaars Cohen, die ein Hilfsnetzwerk für Juden aus München etabliert hatten, aus dem August 1939 dokumentiert seine Bemühungen um ein Visum für Bolivien. Bolivien gehörte zu diesem Zeitpunkt zu den letzten möglichen Fluchtzielen. „Bekommt er das bolivianische Visum nicht“, ist vermerkt, „so will er nur Indien weiterverfolgen.“32 Sein jüngerer Bruder Fritz Alfred Knoche (1886–1942) war zuvor nach Holland geflohen. Er wurde dort 1942 interniert und in Auschwitz ermordet, ebenso wie ein weiterer Bruder, Paul Ludwig, in Riga (1878–1942).
Im Januar 1940 hatte Knoche endlich alle notwendigen Einreisepapiere für die Flucht nach Bolivien. Ilse blieb in Deutschland und übersiedelte nach Wien, musste dort aber untertauchen und überlebte mithilfe befreundeter Familien.33 Insgesamt konnten für München bisher34 verfolgte Zahnärztinnen und Zahnärzte recherchiert werden, von denen sich 23 ins Ausland retten konnten, vier nach 1933 verstarben, sechs deportiert wurden, sich zwei in den Tod flüchteten und nur einer überlebte. Von den sechs namentlich bekannten Dentistinnen und Dentisten sowie einer Zahntechnikerin wurden mindestens fünf Opfer des Holocaust.
Knoche überlebte den verheerenden Brand des italienischen Passagierschiffs „Orazio“ im Mittelmeer, bei dem 106 Passagiere, darunter viele Emigranten, ums Leben kamen. Dabei verlor er wichtige Papiere, etwa sein Doktordiplom aus Jena. Seine Bemühungen, Ersatz zu erhalten, hatten während der NS-Zeit keinen Erfolg.34 Erst 1948 erhielt er eine entsprechende Bestätigung.35
Auf der Überfahrt lernt er seine dritte Ehefrau Susanne kennen, die ebenfalls aus Deutschland geflohen war. Die Voraussetzungen für einen beruflichen Neuanfang waren extrem schwierig. Im Alter von 60 Jahren musste Knoche, in spanischer Sprache, erneut sein zahnärztliches Examen ablegen.36 Es gelang ihm, in La Paz eine Praxis aufzubauen. Auch hier fand er Zeit für wissenschaftliche Abhandlungen.37
Mit 60 legte er wieder das Examen ab – auf Spanisch
Knoche geriet in der alten Heimat nicht in Vergessenheit. Als er im Jahr 1961 aus familiären Gründen nach München zurückkehrte – sein Stiefsohn war zum Studium nach Deutschland gegangen – war ihm bereits das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen worden. Die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO), deren Präsident bereits seit 1937 Gustav Korkhaus war,38 ernannte ihn im selben Jahr zu ihrem Ehrenmitglied. Dies ist umso bemerkenswerter, da von den NS-Opfern einzig Alfred Kantorowicz noch diese Ehre einer deutschen zahnmedizinischen Fachgesellschaft erhielt.39
Bis zu seinem Tod 1969 lebte Erich Knoche mit seiner Frau Susanne in der Münchener Hohenzollernstraße. Seinen bolivianischen Pass hat er immer behalten, seine Stiefschwiegertochter Regine Beer zitierte ihn mit den Worten: „Wer weiß, was noch kommt.“
Dr. Matthis Krischel
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf
matthis.krischel@hhu.de
Literaturliste
1 70. Jahrestag des Entzugs der Approbation der jüdischen Zahnärzte www.jahrestag-approbationsentzug.de [10.08.2020]
2 Universitätsarchiv Jena (UAJ) Best. M, Nr. 502, np.
3 Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Gotha (StaatsAG) Best. 2–99–4006, Nr. 3785.
4 Allgemeine Automobil-Zeitung, 21 (1920), S. 17.
5 Zeyss, Edwin, Gotha: J. Perthes 1933.
6 StaatsAG Best. 2–99–4001, Nr. 1680.
7 UAJ Best. M, Nr. 502, np.
8 Zahn, 2013, S. 154.
9 Knoche 1916, S. 220–221.
10 Knoche, 1921 (zugl. Phil. Diss. Jena 1919)
11 Universitätsarchiv Jena (UAJ) Best. M, Nr. 502, np.
12 Vgl. Wündrich, 2000.
13 Ullrich, 2006, S. 167–187, hier: 185–186.
14 Knoche, 1925, S. 59–104.
15 Knoche, 1923.
16 Knoche, 1931.
17 Kantorowicz, 1929–1931.
18 Zeitschrift für Stomatologie 29 (1931), S. 590.
19 Korkhaus, 1969, S. 389–390.
20 Groß, 2018:43–44.
21 Jäckle, 1988, S. 85–86; Schröck-Schmidt, 1996, S. 131.
22 Stadtarchiv München, Ärztekartei der jüdischen Abteilung, Mitteilung B. Schmidt an U. Ebell vom 22.12.2008.
23 Hecht, 2016, S. 48.
24 Schreiben Susanne Knoche-Andreß an Gershom Scholem vom 09.08.1976.
25 Wysling, 1998, S. 376
26 Mann, 1977, S. 518–519.
27 Beßlich, 2014, S. 113.
28 Schreiben Erich Knoche an die Schriftleitung der Deutschen Blätter vom 27. Juni 1944.
29 Ebd.
30 Zit. nach Hecht, 2016, S. 48.
31 Schreiben Erich Knoche an Josef Erber vom 23 08.1948.
32 Zahn, 2013, S. 155.
33 Hecht, 2016, S. 48.
34 UAJ Best. M, Nr. 502, np.
35 UAJ Best. N, Nr. 79, Bl. 49–50.
36 Jäckle
37 Knoche, Erich, in: Odontoiatraia, S. 683–692.
38 Vgl.
39 Groß, Dominik, Dossier 2: Die Präsidenten der DGZMK,die Ehrenmitglieder der zahnärztlichen Fachgesellschaften und ihre Rolle im „Dritten Reich", https://www.bzaek.de/fileadmin/PDFs/fp/10_Dossier2_Ehrenmitglieder_DGZMK-Praesidenten.pdf [10.08.2020]