Intraorale vaskuläre Anomalie
Anfang 2019 wurde uns eine 52-jährige kaukasische Patientin zur Weiterbehandlung einer tumorösen oralen Schleimhautveränderung überwiesen. Klinisch zeigte sich eine ausgeprägte, nicht druckdolente, weiche, nicht verschiebliche, levide, tumoröse Schwellung im Bereich des dorsalen Zungenrückens mittig (Abbildung 1).
Anamnestisch berichtete die Patientin, dass dieser Befund seit der Kindheit existiere und sie bisher nicht weiter gestört habe, jedoch habe die Schwellung in den vergangenen Wochen leicht an Größe zugenommen. Bemerkt habe sie dies anhand einer progredienten Dysphagie. Zusätzlich bestehe gelegentlich ein blutiger Geschmack.
Im Orthopantomogramm (Abbildung 2) stellten sich neben dem aktuellen Zahnstatus zwei rundliche Verschattungen apikal des Zahnes 23 sowie in der Nähe des linken Foramen mentale dar. Das Angio-CT (Abbildung 3) ergab im posterioren Bereich des Zungenkörpers eine Hypervaskularisierung, die bei einer maximalen Abmessung von 2,7 cm x 3,5 cm x 4,8 cm multiple rundliche Verkalkungen im Sinne von intravasalen Phlebolithen einer vaskulären Anomalie aufwies.
Aufgrund der akut vorherrschenden Perforationsgefahr mit daraus eventuell resultierender lebensbedrohlicher Blutung und der patientenseitig beschriebenen aktuellen Progredienz wurde die Indikation zur Operation gestellt. Unter stationären Bedingungen erfolgte die Exzision der vaskulären Anomalie (Abbildung 4a) mit primärer, lokal plastischer Deckung (Abbildung 4b) in Intubationsnarkose. Abbildung 5 zeigt das Exzidat. Histologisch wurde ein partiell regressiv verändertes, kavernöses Hämangiom mit intravaskulären Verkalkungen ohne Hinweis auf Malignität nachgewiesen (Abbildung 6).
Nach primärer Wundheilung wurde die Patientin am sechsten postoperativen Tag in die ambulante Weiterbehandlung entlassen. Bedauerlicherweise emigrierte die Patientin kurz darauf zurück in ihre Heimat, so dass der postoperative Heilungsverlauf nicht weiter dokumentiert werden konnte.
Diskussion
Seit 2014 werden vaskuläre Anomalien – wie eingangs erwähnt – von der ISSVA in vaskuläre Tumoren und vaskuläre Malformationen klassifiziert. Erstgenannte zeigen histologisch eine endotheliale Proliferation und können im weiteren Verlauf sowohl ein regredientes als auch ein persistentes Verhalten aufweisen. Die vaskulären Tumoren werden weiter in benigne, lokal expansive oder borderline sowie in maligne unterteilt [ISSVA, 2014]. Im Gegensatz dazu existiert bei vaskulären Malformationen keine endotheliale Proliferation. Sie wachsen ohne Regredienz kontinuierlich fortschreitend [Seruga et al., 2015].
Bei den zu den benignen vaskulären Tumoren zählenden Hämangiomen handelt es sich um die häufigsten gutartigen Tumoren der Kindheit. Bei höherer Prävalenz für das weibliche Geschlecht sind sie mit bis zu 70 Prozent hauptsächlich im Kopf-Hals-Bereich lokalisiert, wobei das Gesicht, die Zunge, die orale Schleimhaut und die Lippen am häufigsten betroffen sind [Kamala et al., 2014]. Klinisch erscheinen Hämangiome zumeist als schmerzlose, weiche, glatte bis raue Schwellungen und können Größen von wenigen Millimetern bis mehreren Zentimetern erreichen. Ihre Farbe kann von rosa bis blau-livide variieren und bei Kompression verblassen [Kamala et al., 2014; Kripal et al., 2013]. Hämangiome erscheinen bereits wenige Wochen nach der Geburt (Phase der endothelialen Zellproliferation), nehmen bis zum achten Monat schnell an Größe zu (Phase des schnellen Wachstums) und wachsen anschließend langsam mit. Ab dem fünften Lebensjahr beginnen sie sich in 70 Prozent der Fälle spontan zurückzubilden (Phase der spontanen Rückbildung) [Kamala et al., 2014; V et al., 2014]. Im sichtbaren Hautbereich werden sie auch als Portweinflecke oder Erdbeermale bezeichnet [Kripal et al., 2013].
Aufgrund ihrer erhöhten spontanen Perforationsgefahr bereits bei kleinsten Traumen sowie ihrer möglichen Dysphagie bis hin zu Atemproblemen durch Obstipation bedürfen orale Hämatome einer besonderen Berücksichtigung. Doch ist das Hauptanliegen einer Intervention nicht selten kosmetischer Natur [Kripal et al., 2013].
Zur direkten Bestimmung des Ausmaßes lassen sich Hämangiome bei leichter Zugänglichkeit gut sonografisch darstellen. Zur weiterführenden Diagnostik oder wie im beschriebenen Fall aufgrund des schwierigen Zugangs sowie bei ausgeprägtem Würgereiz kann die Computer- und Magnetresonanztomografie angewendet werden [Kamala et al., 2014; V et al., 2014].
Histologisch sind Hämangiome kapsellos und zeichnen sich durch zumeist venöse oder kapilläre hyperplastische Blutgefäße sowie – phasenabhängig – durch ihre erhöhte endotheliale Mitoserate aus. Dabei wird eine kapilläre von einer kavernösen Form unterschieden, wobei das kapilläre Hämangiom aus vielen kapillären Bündeln besteht, deren Endothelzellen ohne bindegewebige Zwischenschicht direkt aneinander liegen. Das kavernöse Hämangiom zeichnet sich hingegen durch große, dünnwandige Gefäße oder Sinusoide aus, die durch eine dünne bindegewebige Zwischenschicht voneinander getrennt sind [Kamala et al., 2014].
Die Therapie hängt von der Größe, der Lokalisation, den hämodynamischen Verhältnissen, der gegenwärtigen Phase sowie dem Patientenalter ab [V et al., 2014]. Als mögliche Therapien werden die chirurgische Exzision, Strahlen-, Kryo- und Lasertherapie, die Injektion von sklerosierenden Substanzen sowie die selektive vaskuläre Embolisation genannt [Kamala et al., 2014]. Aufgrund der vorliegenden schwierigen Zugänglichkeit mit akut bestehender Blutungsgefahr wurde unsererseits die zeitnahe Exzision empfohlen.
Dr. Med. Felix Paulßen Von Beck
Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, plastische und ästhetische Operationen
Malteser Krankenhaus St. Josefshospital Kurfürstenstr. 69, 47829 Krefeld-Uerdingen Felix.Paulssen@malteser.org
Prof. Dr. med. Claus Dieter Gerharz
Institut für Pathologie
Evangelisches Krankenhaus BETHESDA zu Duisburg GmbH
Heerstr. 219, 47053 Duisburg
PD Dr. Med. Dr. Med. Dent. Thomas Mücke
Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, plastische und ästhetische Operationen
Malteser Krankenhaus St. Josefshospital Kurfürstenstr. 69, 47829 Krefeld-Uerdingen
Thomas.Muecke@malteser.org
Fazit für die Praxis
Nach der ISSVA gehören Hämangiome zu den vaskulären Tumoren. Es sind die häufigsten gutartigen Tumoren der Kindheit mit einer höheren Prävalenz für das weibliche Geschlecht.
Hämangiome sind vorwiegend im Kopf- und Halsbereich (bis zu 70 Prozent) lokalisiert, wobei das Gesicht, die Zunge, die orale Schleimhaut und die Lippen am häufigsten betroffen sind.
Hämangiome sind zumeist schmerzlos, weich, mit einer glatten bis rauen Oberfläche und können wenige Millimeter bis mehrere Zentimeter groß werden. Ihre Proliferation geht vom Endothel aus.
Hämangiome zeigen drei aufeinanderfolgende unterschiedliche Wachstumsphasen und können mit der Zeit regredieren. Ihre Ausdehnung lässt sich sono-, computertomo- und magnetresonanztomografisch ermitteln.
Histologisch wird eine kapilläre von einer kavernösen Form unterschieden.
Abhängig von diversen Faktoren kann das Hämangiom über unterschiedliche Ansätze therapiert werden.
Literaturliste
ISSVA classification for vascular anomalies, Approved at the 20th ISSVA Workshop, Melbourne, April 2014.
Kamala KA, Ashok L, Sujatha GP. Cavernous hemangioma of the tongue: A rare case report. Contemp Clin Dent. 2014; 5(1): 95-98.
Kripal K, Rajan S, Ropak B, Jayanti I. Cavernous hemangioma of the tongue. Case Rep Dent. 2013; 898692.
Seruga T, Lucev J, Jevsek M. Treatment of tongue cavernous haemangioma with direct puncture and sclerotization with ethanol. Radiol Oncol. 2015; 49(1): 75-79.
V P, Puppala N, Deshmukh SN, B J, S A. Cavernous hemangioma of tongue: management of two cases. Clin Diagn Res. 2014; 8(10): ZD15-17.