Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus

Die Forschung geht weiter

Gerne nehme ich zu den Anmerkungen von Dr. Wolfgang Kirchhoff Stellung, zumal es mir Gelegenheit gibt, seine Pionierrolle bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Zahnärztestandes zu bekräftigen. Ich habe dies bereits mehrfach öffentlich betont – in Vorträgen und Aufsätzen, aber auch zum Beispiel in der FAZ (2.12.2019, S. 7) –, möchte es aber an dieser Stelle gerne wiederholen: Dr. Kirchhoff hat mit seinen verdienstvollen Untersuchungen in den 1980er-Jahren nicht nur die ersten Marksteine gesetzt, sondern hatte hierbei noch weitaus höhere Hürden zu überwinden als wir in der jüngsten Vergangenheit. Damit meine ich nicht nur die von ihm angedeuteten Widerstände innerhalb der Zahnärzteschaft, sondern auch die mangelnde Bereitschaft großer Teile der damaligen Gesellschaft, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Man denke nur an die aus heutiger Sicht verstörenden Diskussionen im „Deutschen Ärzteblatt“ Ende der 1980er-Jahre.

Herausstellen möchte ich zudem, dass Dr. Kirchhoff und seine damaligen Mitstreiter, darunter auch Dr. Norbert Guggenbichler, im Unterschied zu uns nicht auf die Ressourcen und wissenschaftlichen Netzwerke eines medizinhistorischen Lehrstuhls zurückgreifen konnten, sondern mit begrenzten eigenen Mitteln wirksam werden mussten. Dass wir nun 40 Jahre später in der Aufarbeitung ein gutes Stück weitergekommen sind, ist auch seiner fortgesetzten Kritik zuzuschreiben: Er war über lange Zeit, um ein Bild zu benutzen, ein Stachel im Fleisch der organisierten Zahnärzteschaft – gewiss eine undankbare, aber letztlich erfolgreiche Rolle!

Zu den erwähnten Erlebnissen von Dr. Kirchhoff in den 1980er-Jahren kann ich aus Altersgründen persönlich nichts beitragen – ich kenne aber ähnliche Berichte von anderen Berufsgruppen, für die ich Aufarbeitung betreibe. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle zum angesprochenen, mittlerweile ausgelaufenen Projekt äußern: Danken möchte ich Dr. Kirchhoff zunächst für das grundsätzliche Lob, was die Fülle und didaktische Qualität unserer Forschungen betrifft. Ich freue mich darüber und ich bin sicher, alle Projektbeteiligten sehen das ähnlich. Ein wenig anders „einrahmen“ möchte ich indessen die Aussage, dass einiges unerforscht geblieben sei. 

Dabei sind mir zwei Hinweise wichtig:

  • Im Grundsatz teile ich diese Aussage. Ich selbst habe in dieser Zeitschrift – in meinem Abschlussbericht (zm 23-24/2020) – betont, dass unsere Forschung nicht abgeschlossen ist und es einige offene Fragen gibt, die nur mit weiteren Fördermitteln zu klären wären. Als konkrete Beispiele habe ich die Themenfelder Zwangssterilisationen (bei Trägern von LKG-Spalten) und Zwangsarbeit unter zahnärztlicher Verantwortung genannt. Ohnehin – jetzt referiere ich eine wissenschaftliche Binsenweisheit – ist es das Wesen von Forschung, stets neue, weiterführende Fragen aufzuwerfen. Ich habe bis heute noch kein Projekt geleitet, das nach Ende der Laufzeit keine Forschungsdesiderate aufgedeckt hätte. 

  • Beim Lesen des Kommentars habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Schlussfolgerungen von Dr. Kirchhoff vornehmlich auf der präsentierten Reihe zur NS-Zahnmedizin in der zm basieren. Das ist aber nur ein Ausschnitt unserer Forschungsergebnisse. Neben der zm-Reihe gibt es eine zweite NS-Reihe in der „Deutschen Zahnärztlichen Zeitschrift“ und parallel dazu in der englischsprachigen „DZZ International“: Dabei handelt es sich um insgesamt elf deutsch- und elf englischsprachige Beiträge zur Rolle der DGZMK und ihrer Protagonisten, von denen bis März erst ein deutscher und zwei englische Aufsätze veröffentlicht werden konnten. Sie sind jedoch alle bereits eingereicht. Außerdem haben wir eine dritte Reihe in der Fachzeitschrift „Der MKG-Chirurg“ etabliert, die sich dem Fach Kieferchirurgie und den Kieferchirurgen widmet (und damit auch dem Thema der Zwangssterilisation). Sie umfasst weitere neun Aufsätze – auch diese sind bereits alle verfasst. Publikationsstart war im April 2021. Und selbst das ist nicht alles: Als Forscher muss es unser eigentlicher Anspruch sein, weltweit und in der Wissenschaftssprache Englisch zu publizieren. Einige Ergebnisse erschienen – und erscheinen – daher in internationalen medizinhistorischen Fachzeitschriften (zum Beispiel in Medical History, Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, Endeavour, Sudhoffs Archiv). Sie richten sich an Fachhistoriker und unterscheiden sich schon deshalb methodisch und thematisch von den eingangs genannten Beiträgen. Doch auch zahnärztliche Journals sind dabei (British Dental Journal und Journal of Craniomaxillofacial Surgery). Last, not least erscheint im Herbst der erste Band meines dreiteiligen Zahnärzte-Lexikons mit quellenbasierten Beiträgen (darunter auch die genannten Zahnärzte Loos und Pieper). 

Die Ergebnisse können sich sehen lassen

Kurz und gut: Mein Vorschlag wäre, das Urteil über den geleisteten Umfang unserer Forschung zurückzustellen, bis alle eingereichten Arbeiten publiziert sind. Übrigens war unser Gesamtbudget mit 90.000 Euro wesentlich geringer als bei jedem anderen Aufarbeitungsprojekt, das ich kenne, und diese Summe war zudem noch auf die Erforschung der Täter (Aachen) und der Opfer (Düsseldorf) aufzuteilen. In vielen Projekten erreichen die Mittel den drei- bis vierfachen Umfang. Auch im Hinblick auf dieses Budget bin ich der Ansicht, dass sich unsere Forschungsergebnisse sehen lassen können.

Erlauben Sie mir einen weiteren Aspekt anzusprechen: Dr. Kirchhoff hat sich auch zu Dr. Peter Engel, Dr. Wolfgang Eßer und Prof. Roland Frankenberger geäußert. Hier würde ich gern meinen Eindruck dazugesellen. Die drei Genannten waren als Vertreter der Förderinstitutionen Bundeszahnärztekammer (BZÄK), Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) und Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) mitentscheidend dafür, dass das Projekt zustande kam und reibungslos verlief. Hierin sehe ich ein wirkliches historisches Verdienst und eine standespolitische Zäsur. 

Ich persönlich habe auch keine Veranlassung, dies zu relativieren: Es gab nicht den leisesten Versuch der Einflussnahme auf unsere Forschung oder Publikationen. Die Genannten sind auch nicht verantwortlich für Versäumnisse und Fehler der Vergangenheit und ich habe bei keiner unserer informellen oder öffentlichen  Zusammenkünfte erlebt, dass diese Versäumnisse beschönigt wurden. Und für die politische Vergangenheit des Freien Verbands Deutscher Zahnärzte (FVDZ) – die ich in der Pressekonferenz sehr wohl thematisiert habe – sind sie nicht zuständig. 

Meine positive Einschätzung stützt sich übrigens nicht nur auf persönliche Eindrücke, sondern auch auf Fakten: BZÄK und KZBV haben sich zum Beispiel zu Projektbeginn entschieden, den hochdotierten Herbert-Lewin-Preis (NS-Aufarbeitungspreis in Medizin) mitzutragen, und die DGZMK hat zwischenzeitlich einen eigenen Aufarbeitungspreis und eine jährliche Gedächtnisvorlesung im Rahmen des Zahnärztetags beschlossen – beides musste bedingt durch COVID-19 leider von 2020 auf 2021 verschoben werden. 

Ich teile übrigens voll und ganz die Ansicht von Dr. Kirchhoff, dass es richtig und wichtig wäre, eine zahnärztliche Deklaration nach dem Vorbild der Nürnberger Erklärung zu verfassen und zu verlesen. Ich halte dies auch keineswegs für unwahrscheinlich. Schon vor diesem Hintergrund hoffe ich, mit Dr. Wolfgang Kirchhoff im Gespräch zu bleiben. Wir beschreiten schlussendlich beide denselben Weg – und er ist noch nicht ganz zu Ende ... 

Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß 

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen
Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MTI 2,
Wendlingweg 2, 52074 Aachen
dgross@ukaachen.de

Dominik Groß

Univ.-Prof. Dr. med. dent. Dr. med. Dr. phil. Dominik Groß

Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Vorsitzender des Klinischen
Ethik-Komitees des UK Aachen
Universitätsklinikum der
RWTH Aachen University
MTI 2, Wendlingweg 2, 52074 Aachen

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