Intraorale Manifestation eines Multiplen Myeloms
Ein 58-jähriger Patient stellte sich mit einer neu aufgetretenen Schwellung zentral im Bereich des harten Gaumens in der Ambulanz unserer Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vor. Nach eigenen Angaben wurde die Schwellung erstmalig vor wenigen Wochen durch den Patienten beziehungsweise seinen Hauszahnarzt bemerkt. Die allgemeine Anamnese ergab ein Multiples Myelom vom Kappa-Leichtketten-Typ, Stadium DS IIIA, ISS I (Erstdiagnose 11/2015) mit multiplen Osteolysen bei disseminiertem Befall des Achsenskeletts und pathologischer Klavikula-Fraktur. Bei Zustand nach Apoplex umfassten die weiteren Vorerkrankungen ein Harnverhalt bei neurogener Blasenentleerungsstörung, eine Femurfraktur bei Zustand nach Sturz sowie eine pathologische Humerusfraktur.
Der Patient erhielt seit April 2016 das intravenös verabreichte Bisphosphonatpräparat Zolendronat einmal monatlich in der Dosierung 4mg. Beim Auftreten einer medikamentenassoziierten Osteonekrose des Unterkiefers erfolgte die Unterbrechung der Bisphosphonat-Therapie im Januar 2018 und die modellierende Osteotomie mit plastischer Schleimhaut- deckung in Regio 044 bis 048 durch unsere Klinik. Im Rahmen der medikamentösen, hämatoonkologischen Myelomtherapie erhielt der Patient eine Chemo- beziehungsweise Immuntherapie. Osteolysen der Brust- und Lendenwirbelkörper wurden durch eine Strahlentherapie behandelt.
Bei unauffälligem extraoralen Befund imponierte intraoral ein 2 cm x 2 cm großer, zentral im Bereich des harten Gaumens gelegener Tumor (Abbildung 1). Die Raumforderung zeigte sich palpatorisch weich, nicht verschieblich, nicht fluktuierend und prall-elastisch. Die Mundschleimhaut wies in regio 044 und 048 bei Zustand nach operativer Therapie einer Osteonekrose eine narbige Veränderung auf.
Bei primärem Malignitätsverdacht wurden neben einer intraoralen Manifestation des Multiplen Myeloms weitere Lymphome und andere maligne Raumforderungen wie Plattenepithelkarzinome, Speicheldrüsenkarzinome, Metastasen und Sarkome als mögliche Diagnosen in Betracht gezogen. Weniger wahrscheinliche, benigne Prozesse des harten Gaumens, welche sich in Form von Adenomen, Fibromen, Hämangiomen, Mukozelen, Epulitiden oder Abszessformationen äußern können, wurden zunächst nur untergeordnet in Erwägung gezogen.
Im Rahmen der weiterführenden Diagnostik, führten wir eine Magnetresonanztomografie Kopf/Hals durch. Hierbei zeigte sich eine zirkuläre, flaue, T2-Signal angehobene, randständig kontrastmittelaufnehmende Raumforderung des zentralen harten Gaumens mit Verdacht auf eine angrenzende ossäre Infiltration der Nasenhaupthöhle und einer Ausdehnung von 15 x 20 x 19 mm. Die Raumforderung zeigte sich im Vergleich zu einer, bereits vor sechs Wochen erfolgten CT-Kontrolle im Rahmen des Re-Stagings, deutlich größenprogredient (Abbildung 3).
In der Panoramaansicht des aktuellen digitalen Volumentomogramms (DVT) zeigten sich osteolytische Läsionen des Unterkieferknochens sowie eine Minderung der vertikalen Knochenhöhe im vierten Quadranten bei Zustand nach modellierender Osteotomie.
Aufgrund des ausgeprägt vaskularisierten Tumors und bei Einnahme von Antikoagulantien erfolgte die Biopsie der Raumforderung unter stationärer Überwachung des Patienten und in Intubationsnarkose. Hierbei wurde die Raumforderung bis auf das Niveau des Hartgaumens unter ausgiebiger Blutstillung und Ligatur der linken Arteria palatina abgetragen und der pathohistologischen Untersuchung zugeführt. Auch intraoperativ zeigte sich eine ausgeprägte ossäre Destruktion des Hartgaumens und eine Infiltration der Nasenhaupthöhle. Zum vorübergehenden Defektverschluss wurde ein Überknüpfverband am Gaumen des Patienten fixiert.
Die histopathologische Untersuchung bestätigte den Verdacht der Myelommanifestation am Gaumen und ergab die Diagnose eines oberflächlich ulzerierten, plasmoblastisch differenzierten Plasmazellmyeloms. Die ergänzenden immun- histochemischen Untersuchungen ergaben eine monotypische Expression der Immunglobulinleichtkette Kappa.
Der stationäre, postoperative Heilungsverlauf gestaltete sich unter intravenöser, antibiotischer Therapie und Nachblutungskontrolle komplikationslos - der Patient konnte zeitnah entlassen werden. Im Rahmen der ambulanten Nachbehandlung zeigte sich eine komplikationslose Wundheilung, so dass der Überknüpfverband am Gaumen nach zehn Tagen entfernt werden konnte.
Nach histologisch gesichertem Myelomrezidiv erfolgte die unmittelbare Kontaktaufnahme mit der Klinik für Hämatologie und Onkologie in unserem Hause. Dort wurde die onkologisch-medikamentöse Therapie intensiviert und eine lokale Radiotherapie des Gaumens zusammen mit der Abteilung für Strahlentherapie geplant.
Diskussion
Das Multiple Myelom ist eine maligne Erkrankung, die sich durch eine unkontrollierte Vermehrung von Plasmazellen im Knochenmark äußert. Sie gehört zu den häufigsten malignen Neoplasien des Knochens und des Knochenmarks. Im Rahmen der Erkrankung kommt es zur Bildung monoklonaler Antikörper, die sich im Blutserum oder Urin detektieren lassen [Kyle und Rajkumar, 2004; Röllig et al., 2015]. Das Erkrankungsalter liegt im Durchschnitt zwischen 60–70 Jahren [Kyle et al., 2003].
Durch die Gabe von Bisphosphonaten im Rahmen der antiosteolytischen Therapie und zur Frakturprophylaxe können sich bisphosphonatassoziierte Kiefernekrosen (BRONJ) entwickeln. Somit ist eine Vorstellung der Myelom-Patienten in der hauszahnärztlichen oder kieferchirurgischen Praxis keine Seltenheit. Bei Verdacht oder zum Ausschluss einer Kiefernekrose werden die Patienten häufig zur Mitbeurteilung auch direkt durch den behandelnden Onkologen zum Zahnarzt oder Mund-, Kiefer- Gesichtschirurgen überwiesen.
Die intraorale Manifestation eines Multiplen Myeloms, wie in diesem Fall beschrieben, wird in der Literatur uneinheitlich mit einer Häufigkeit von 10 Prozent bis zu 70 Prozent angegeben [Furutani et al., 1994; Witt et al., 1997; Gholizadeh et al., 2016; Feitosa É et al., 2020]. Hierbei ist vor allem der Kieferknochen in bis zu 30 Prozent der Fälle betroffen [Beaumont et al., 2020]. Bei der klinischen Untersuchung der Mundhöhle kann sich das Multiple Myelom in Form von Zahnschmerzen, Parästhesien, Zahnlockerungen, Missempfindungen und Schleimhautschwellungen äußern [Cardoso et al., 2014]. Aufgrund dessen kommt der zahnmedizinischen Diagnostik im Rahmen einer multidisziplinären Behandlung von Patienten mit Multiplem Myelom eine wichtige Bedeutung zu. Sie betrifft eine initiale umfassende Diagnostik des Zahnstatus und der Mundschleimhäute sowie die Betreuung von Myelompatienten während einer Chemo- beziehungsweise Immun-therapie und regelmäßige anschließende Verlaufskontrollen [Dabell et al., 2012; Feitosa É et al., 2020]. Dabei gilt es, die beschriebenen Nebenwirkungen wie medikamentenassoziierte oder radiogene Osteonekrosen der Kiefer bei Patienten unter Myelomtherapie in der zahnärztlichen Praxis zu bedenken [Kyle und Rajkumar, 2004]. Die Herausforderung ist, Zahn- beziehungsweise Schleimhautschmerzen, Schwellungen und Infektionen unklarer Ursache frühzeitig zu erkennen sowie eine zeitnahe weitere Diagnostik und Weiterbehandlung einzuleiten.
Dr. med. Dr. med. dent. Max-Philipp Lentzen
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie
Universitätsklinik Köln
Kerpener Str. 62, 50937 Köln
Dr. med. Dr. med. dent. Maximilian Riekert
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie
Universitätsklinik Köln
Kerpener Str. 62, 50937 Köln
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Joachim E. Zöller
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie
Universitätsklinik Köln
Kerpener Str. 62, 50937 Köln
Fazit für die Praxis
Aufgrund medikamentenassoziierter Kiefernekrosen stellen sich Patienten mit Multiplem Myelom auch in der zahnärztlichen beziehungsweise kieferchirurgischen Praxis vor.
Intraorale Manifestationen des Multiplen Myeloms sind keine Seltenheit und können als Erstmanifestation oder bei bereits diagnostiziertem Multiplem Myelom auftreten.
Bei einer Mitbeteiligung der Kiefer sollte die Behandlung in einem interdisziplinären Zentrum durch Hämatologen, MKG-Chirurgen und Strahlentherapeuten erfolgen.
Literaturliste
Beaumont, S., R. M. Koo and S. J. Harrison (2020). „A Wolf in Sheep's clothing: A case report series of oral manifestations of multiple myeloma.“ Aust Dent J.
Cardoso, R. C., P. J. Gerngross, T. M. Hofstede, D. M. Weber and M. S. Chambers (2014). „The multiple oral presentations of multiple myeloma.“ Support Care Cancer 22(1): 259-267.
Dabell, M., D. Oda and R. E. Thompson (2012). „Primary lesion of multiple myeloma presenting as gingival swelling.“ J Oral Maxillofac Pathol 16(3): 425-427.
Feitosa É, F., R. J. P. Magalhães, C. A. M. Barbosa, F. R. Guedes, A. Maiolino and S. R. Torres (2020). „Oral health status of patients with multiple myeloma.“ Hematol Transfus Cell Ther 42(2): 166-172.
Furutani, M., M. Ohnishi and Y. Tanaka (1994). „Mandibular involvement in patients with multiple myeloma.“ J Oral Maxillofac Surg 52(1): 23-25.
Gholizadeh, N., M. Mehdipour, B. Rohani and V. Esmaeili (2016). „Extramedullary Plasmacytoma of the Oral Cavity in a Young Man: a Case Report.“ J Dent (Shiraz) 17(2): 155-158.
Kyle, R. A., M. A. Gertz, T. E. Witzig, J. A. Lust, M. Q. Lacy, A. Dispenzieri, R. Fonseca, S. V. Rajkumar, J. R. Offord, D. R. Larson, M. E. Plevak, T. M. Therneau and P. R. Greipp (2003). „Review of 1027 patients with newly diagnosed multiple myeloma.“ Mayo Clin Proc 78(1): 21-33.
Kyle, R. A. and S. V. Rajkumar (2004). „Multiple myeloma.“ N Engl J Med 351(18): 1860-1873.
Röllig, C., S. Knop and M. Bornhäuser (2015). „Multiple myeloma.“ Lancet 385(9983): 2197-2208.
Witt, C., A. C. Borges, K. Klein and H. J. Neumann (1997). „Radiographic manifestations of multiple myeloma in the mandible: a retrospective study of 77 patients.“ J Oral Maxillofac Surg 55(5): 450-453; discussion 454-455.