Über 70 Jahre „Zahnschmerzen“ – durch unentdeckten Fremdkörper
Die Patientin wurde im Jahr 2015 mit therapieresistenten Schmerzen im Innervationsgebiet des rechtsseitigen Nervus mandibularis vorstellig. Der überweisende Hauszahnarzt bat um Mitbeurteilung und Ausschluss einer Trigeminusneuralgie, nachdem er bereits dentale Foki als Ursache der Beschwerden ausgeschlossen hatte.
Die Patientin schilderte, seit ihrer Jugend (sic!) an quälenden „Zahnschmerzen“ zu leiden. Die Schmerzen wurden als einschießend-stechend und nicht exakt lokalisierbar im Bereich des unteren rechten Gesichtsdrittels beschrieben und seien insbesondere beim Essen symptomatisch. Sie berichtete weiter über eine seit sieben Jahrzehnten bestehende leidensvolle Odyssee, in deren Verlauf mehrere Zahnärzte ergebnislos versucht hätten, ihr mit Zahnentfernungen oder unterschiedlichsten Schmerzmedikationen zu helfen.
In unserer Praxis wurde zunächst ein Orthopantomogramm (OPG) angefertigt, auf dem neben einem prothetisch und konservierend versorgten Restgebiss im Bereich des rechten Kiefergelenks eine unklare, länglich-ovale Verschattung erkennbar war (Abbildung 1). Differenzialdiagnostisch vermuteten wir einen Fremdkörper oder eine langstreckige Gefäßverkalkung. Die Patientin konnte sich aber an keine Verletzung oder mögliche andere Ursachen einer Fremdkörpereinsprengung erinnern, woraufhin eine Computertomografie (CT) zur weiteren Diagnostik veranlasst wurde.
Einen Tag später meldete sich die Patientin telefonisch mit einer beeindruckenden Geschichte: Als Sechsjährige habe sie bei den Schulaufgaben mit Schieferstift und Tafel eine ziemlich starke Ohrfeige von ihrer Stiefmutter bekommen, sodass der Schieferstift zerbrochen sei. Danach habe sie an der Schläfe stark geblutet und eine kleine Verletzung über dem Ohr bemerkt. Im weiteren Verlauf habe die Wunde dann geeitert und einige Tage geschmerzt. Aus Angst vor der Reaktion der Stiefmutter und aus Scham habe die Patientin damals aber niemandem davon erzählt und ein Kopftuch getragen, bis die Wunde abgeheilt war.
Auf der angefertigten Computertomografie war ein zur Geschichte der Patientin passendes Objekt in der Form einer Griffelspitze deutlich erkennbar, die im Spatium pterygomandibulare mit enger Lagebeziehung zum Nervus mandibularis lokalisiert war (Abbildungen 2 und 3).
Der Schieferstift wurde daraufhin unter stationären Bedingungen in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgischen Klinik des Universitätsklinikums Erlangen komplikationslos durch einen enoralen Zugang entfernt (Abbildungen 4 und 5). In der postoperativen Phase nahmen die Beschwerden der Patientin kontinuierlich ab und verschwanden schließlich vollständig. Die langjährige Schmerzmedikation mit Carbamazepin konnte nach Entlassung aus der stationären Behandlung ausgeschlichen werden.
Diskussion
Ein eingesprengter Fremdkörper, der den Nervus mandibularis insbesondere bei Kaubewegungen chronisch reizte, war die Ursache für die jahrelangen Beschwerden der Patientin mit einer massiven Einschränkung ihrer Lebensqualität. Ernüchternd an diesem Fall ist die Tatsache, dass der Fremdkörper trotz der langen Leidensgeschichte und der Vorbehandlungen erst so spät erkannt wurde.
Bei der Mehrzahl unserer Patienten mit Schmerzen im Kieferbereich liegt die Ursache in zahnbezogenen Pathologien. Weitere häufige Differenzialdiagnosen in solchen Fällen können muskuläre Beschwerden (Arthromyopathie, Cranio-Mandibuläre Dysfunktion), eine Trigeminusneuralgie, das Eagle-Syndrom oder auch ein Tumorgeschehen darstellen.
Bei weiterbestehenden unklaren Ursachen und therapieresistenten Beschwerden sollten auch Kausalitäten außerhalb des zahnmedizinischen Fachbereichs in Betracht gezogen werden. Der vorliegende Fall unterstreicht dabei die Bedeutung der Befundung der vorliegenden Röntgendiagnostik in der zahnärztlichen Praxis. Bei der Identifikation von fraglichen Fremdkörpern auf zweidimensionalen Röntgenbildern ist die Anfertigung einer dreidimensionalen Bildgebung hilfreich und obligat.
Bei der Wahl der weiterführenden Diagnostik ist zu beachten, dass Fremdkörper sich je nach Material sehr unterschiedlich darstellen lassen: Zunächst ist die Lage des Fremdkörpers von Bedeutung. Oberflächliche, im Weichgewebe gelegene Objekte lassen sich unabhängig vom Material gut im Ultraschall darstellen. In tieferen Schichten oder innerhalb des Knochens sind die Computertomografie (CT) und die digitale Volumentomografie (DVT) die bevorzugten Verfahren [Valizadeh et al., 2016].
Neben der Lage ist bei der Darstellbarkeit eines Fremdkörpers auch das Material entscheidend (Tabelle 1). In den konventionellen zahnärztlichen Röntgenaufnahmen (Zahnfilm und Panoramaschichtaufnahme) lassen sich beispielsweise Metall und Graphit verlässlich abbilden; Fragmente sind erst ab einer Größe von über 2 mm gut erkennbar. In der dreidimensionalen Bildgebung erreicht man sowohl mit dem CT als auch mit dem DVT die bestmögliche Darstellung fast aller Materialien. Eine Ausnahme stellt die Darstellung von Holzpartikeln dar. Hierbei kann eine Ultraschalluntersuchung hilfreich sein [Kaviani et al., 2014; Javadrashid et al., 2015].
Zuletzt bleibt die Frage, wann Fremdkörper zu entfernen sind. Hierbei wird in der Literatur sowohl die Meinung vertreten, dass symptomlose Fremdkörper belassen werden können, als auch die Auffassung, dass identifizierte Fremdkörper frühzeitig entfernt werden sollten, um späteren Beschwerden, der Migration in kritische Bereiche oder toxischen Effekten vorzubeugen [Kühnel et al., 2009; Stockmann et al., 2007]. Der vorliegende Fall kann sicherlich zu dieser Diskussion beitragen. Wäre die Griffelspitze frühzeitig erkannt und entfernt worden, hätte die Patientin sehr wahrscheinlich ein angenehmeres Leben geführt. Durch die modernen bildgebenden Verfahren und die Möglichkeit mikrochirurgischer Eingriffe wird die Indikation zur Fremdkörperentfernung heutzutage zunehmend früher gestellt.
Dr. Florian Adelmann
Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgie Weißenburg, Donauwörth und Eichstätt
Bismarckanlage 3, 91781 Weißenburg
Prof. Dr. Dr. Falk Wehrhan, MHBA
Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgie Weißenburg, Donauwörth und Eichstätt
Bismarckanlage 3, 91781 Weißenburg
und
Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Erlangen
Glückstr. 11, 91054 Erlangen
PD Dr. Dr. Philipp Stockmann
Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgie Weißenburg, Donauwörth und Eichstätt
Bismarckanlage 3, 91781 Weißenburg
und
Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Erlangen
Glückstr. 11, 91054 Erlangen
Literaturliste
1. Valizadeh S, Pouraliakbar H, Kiani L, Safi Y, Alibakhshi L. Evaluation of Visibility of Foreign Bodies in the Maxillofacial Region: Comparison of Computed Tomography, Cone Beam Computed Tomography, Ultrasound and Magnetic Resonance Imaging. Iran J Radiol. 2016;13(4):e37265. Published 2016 Aug 10. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27895878/
2. Kaviani F, Javad Rashid R, Shahmoradi Z, Gholamian M. Detection of foreign bodies by spiral computed tomography and cone beam computed tomography in maxillofacial regions. J Dent Res Dent Clin Dent Prospects. 2014;8(3):166-171. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25346836/
3. Javadrashid R, Fouladi DF, Golamian M, et al. Visibility of different foreign bodies in the maxillofacial region using plain radiography, CT, MRI and ultrasonography: an in vitro study. Dentomaxillofac Radiol. 2015;44(4):20140229. https://www.birpublications.org/doi/10.1259/dmfr.20140229
4. Kühnel TV, Tudor C, Neukam FW, Nkenke E, Stockmann P. Air gun pellet remaining in the maxillary sinus for 50 years: a relevant risk factor for the patient?. Int J Oral Maxillofac Surg. 2010;39(4):407-411. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19962278/
5. Stockmann P, Vairaktaris E, Fenner M, Tudor C, Neukam FW, Nkenke E. Conventional radiographs: are they still the standard in localization of projectiles?. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod. 2007;104(4):e71-e75. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17703962/