Vater-Sohn-Konflikt in der Praxis
In einer süddeutschen Kleinstadt führt Zahnarzt Dr. N. zusammen mit seiner Frau bereits in zweiter Generation eine allseits bekannte und angesehene Zahnarztpraxis. Mit seinem Sohn Dr. N. junior, der vor zweieinhalb Jahren erfolgreich das Zahnmedizinstudium abgeschlossen hat, steht nun bereits die dritte Generation an, die berufliche Familientradition fortzuführen. Seine Zeit als Vorbereitungsassistent hat er, nicht zuletzt auf Anraten seines Vaters, in einer mehrstühligen Praxis in der Landeshauptstadt absolviert. Ein Ziel war, „auch mal was anderes zu sehen“, bevor er in die elterliche Praxis einsteigt, um sie zeitnah zu übernehmen.
Neue Besen kehren bekanntlich gut
Doch nicht allzu lange nach dem Arbeitsbeginn in der elterlichen Praxis – zunächst noch als Vorbereitungsassistent – kommt es immer wieder zu unterschiedlichen Auffassungen und Diskussionen, sowohl in fachlicher Hinsicht als auch über die Praxisorganisation und Arbeitsabläufe. Während die Eltern ein gewisses „Beharrungsvermögen“ zeigen und sowohl ihre bewährten Therapiekonzepte als auch die eingespielte Praxisorganisation präferieren und rechtfertigen, will der Junior seine Erfahrungen aus der Großstadtpraxis umsetzen und – wie er selbst sagt – „etwas frischen Wind in die Praxis bringen“.
Nicht immer spricht er seine Ideen und deren Umsetzung im Vorfeld mit den Eltern dezidiert ab, gerade wenn er bewusst Grenzen austestet. Beispielsweise bietet er „Behandlungen“ an, die eindeutig als kosmetische Maßnahmen zu verorten sind, etwa das Kleben von Zahnschmuck.
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Dies führt zur Verstimmung der Eltern wie durch widersprüchliche Weisungen und Verhaltensmuster auch zu Irritationen bei den zahnärztlichen Fachangestellten. Diese sind zwar bei den Eltern angestellt, sehen jedoch in N. junior nicht nur den Assistenzarzt, sondern auch ihren künftigen Arbeitgeber. Als das Zahnarztehepaar schließlich von mehreren Patienten darauf angesprochen wird, dass „neue Besen ja bekanntlich gut kehren“, bahnt sich ein offener Konflikt zwischen Eltern – insbesondere dem Vater – und Sohn an.
Der Senior fragt sich, wie weit er die Alleingänge seines Sohnes dulden oder ob er sie besser unterbinden soll. Was zählt in diesem Konflikt mehr: die Rolle des Vaters gegenüber seinem Sohn oder die Rolle und Weisungsbefugnis des Praxisinhabers gegenüber seinem Angestellten? Kann er auch innerhalb der Familie die gleichen Maßstäbe an die im Berufsrecht festgeschriebene Pflicht zur Kollegialität anlegen oder kommt hier noch eine weitere Ebene hinzu, die dem Sohn in seiner derzeitigen Stellung besondere Freiheiten gewährt? Und in welcher Weise werden die Interessen der Mitarbeiterinnen und der Patienten berührt?
Dr. Giesbert Schulz-Freywald: Das ist ein Fall für den kategorischen Imperativ
Konflikte zwischen Eltern und Kindern sind so alt wie die Menschheit. Die Bibel berichtet von Abraham, der sogar bereit war, seinen Sohn zu opfern. Der preußische Soldatenkönig zwang seinen Sohn Friedrich, bei der Exekution seines Freundes Katte zuzuschauen. Doch die Zeiten haben sich zum Glück geändert: Väter und Söhne stehen sich heute auf Augenhöhe gegenüber.
Gerade der Nachfolge wird in Firmen große Aufmerksamkeit zuteil, weil eine gut vorbereitete und wohlgeordnete Übergabe eines Betriebs in aller Interesse ist und von den Inhabern und den Mitarbeitern gewünscht wird.
Im vorliegenden Fall prallen die Vorstellungen der älteren Generation auf den Wunsch des möglichen jungen Nachfolgers, des Sohnes: Ein offener Streit bahnt sich an. Professionelle Streitschlichter würden hier zu einer Mediation raten, damit der drohende Konflikt rechtzeitig entschärft wird.
Die rein rechtliche Konstellation ist rasch geklärt – die gesamte Verantwortung für alles, was in der Praxis geschieht, liegt beim Praxisinhaber. Führt der zukünftige Chef ohne Absprache – also im Alleingang – Behandlungen durch, die einen rein kosmetischen Zweck haben, dann könnte dies negative finanzielle Folgen für die
Praxis haben, da beispielsweise Einkünfte aus derartigen „Therapien“ umsatzsteuerpflichtig sein können.
Die Lösung dieses Vater-Sohn-Konflikts gelingt bei Anwendung des „gesunden Menschenverstands“: Der Sohn bespricht seine Vorstellungen mit den Eltern, die ja noch die alleinige Verantwortung für die Praxis tragen. So ergeben sich einvernehmlich notwendige Veränderungen – oder der Sohn geht seinen eigenen (Praxis-)Weg. Ein ethischer Konflikt zwischen zwei Alpha-Tieren scheint hier untergeordnet, wenn überhaupt vorhanden.
Die in der Medizin beliebte Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress lässt sich nicht so einfach anwenden, da diese eher Patienten und deren klinischen Betreuer betrifft. Besser nutzen lässt sich die Verantwortungsethik nach dem Philosophen Hans Jonas, die auf dem Kant´schen Imperativ beruht.
Das klärende Gespräch zwischen den Konfliktparteien sollte die beiderseitige Verantwortung für die gegenwärtige und zukünftige Praxis beleuchten und mit einem einvernehmlichen Kompromiss enden, sonst sind die Patienten und die Mitarbeiter diejenigen, die am meisten leiden.
Doch auch wenn es zu keiner Einigung kommen sollte, ginge die Welt nicht unter. Die Verantwortung für die Praxis könnte auch ein fremder Nachfolger übernehmen.
Dr. Dirk Leisenberg: Idealerweise übernimmt man das Beste aus beiden Welten
Der hier dargelegte Fall bietet in seiner Konstellation Konfliktpotenzial auf gleich mehreren Ebenen. Die besondere, in der Zahnmedizin aber durchaus nicht seltene Situation des Einstiegs des Sohnes oder der Tochter in die elterliche Praxis zur späteren Übernahme hebt den ohnehin unter Heilberuflern oft vorhandenen Generationenkonflikt auf eine zusätzliche, persönlich-emotionale Ebene.
Prima vista liegt der Gedanke nahe, dass man an einem bestehenden, offensichtlich gut funktionierenden Praxiskonzept keine einschneidenden Veränderungen durchführen sollte. Zu groß scheint das Risiko, Stammpatienten zu verlieren. Dieses ist insbesondere in ländlichen Regionen durch das meist vor allem auf Mundpropaganda basierende Empfehlungssystem nicht zu unterschätzen. Daher ist es ratsam, Veränderungen mit Fingerspitzengefühl umzusetzen, um Innovationen zu ermöglichen, aber Patienten, die sich der Praxis aufgrund der bewährten Behandlungsmethoden verbunden fühlen, nicht vor den Kopf zu stoßen.
Während die Elterngeneration einen offensichtlich rein kurativ orientierten Ansatz im Zentrum der Praxisphilosophie sieht, will der Sohn die in der Großstadt erfahrene Marktorientierung umsetzen, die auch wirtschaftlich verlockend zu sein scheint. Allerdings ist dabei der Grat zur wunscherfüllenden Zahnmedizin oft schmal und erfordert ebenfalls das bereits erwähnte Fingerspitzengefühl. Die bereits vorgenommenen Änderungen scheinen, so wie es die dem Seniorchef gegenüber getätigten Äußerungen belegen („neue Besen kehren gut“), bei den Patienten überwiegend positiv aufgenommen zu werden. Besonders wichtig ist bei der Einführung neuer Konzepte oder auch der Umstrukturierung einer Praxis eine gute Abstimmung zwischen aktueller und zukünftiger Praxisführung. Hier bietet das Eltern-Kind- und in diesem Fall speziell das Vater-Sohn-Verhältnis durchaus Chancen – aber auch Risiken.
Ein Risiko ist – und die Fallskizze spricht für dieses Phänomen –, dass emotionale Aspekte schwerer wiegen als es bei einem „neutralen Dritten“ der Fall wäre.
Der Vater möchte, seiner gewohnten Rolle entsprechend, den Sohn von seinem reichen Erfahrungsschatz profitieren lassen. Der hingegen hält seine einerseits im kürzlich abgeschlossenen Studium, aber auch seine in der Stadt erworbenen Kenntnisse für den Maßstab für eine zeitgemäße Zahnmedizin. Das führt auf der einen Seite zu gekränktem Stolz und auf der anderen Seite dazu, dass dem unvermeidlichen Konflikt, Änderungswünsche mit dem Vater diskutieren zu müssen, aus dem Weg gegangen wird und stattdessen Alleingänge stattfinden.
In einer solchen Situation ist der familiäre Kontext ein Hindernis, da Konflikte aus dem beruflichen in den privaten Bereich getragen werden. Dabei gäbe es auch die Chance, durch gute Kommunikation der Beteiligten und verstärkt durch die Familienbande ein gemeinsam abgestimmtes Konzept für eventuell sinnvolle Umstrukturierungen und -orientierungen zu entwickeln, bei dem sowohl Innovationen als auch möglicherweise berechtigte Bedenken in Bezug auf „unseriöse“ Behandlungsmethoden gleichermaßen Berücksichtigung finden. Schließlich soll der Sohn ja auf längere Sicht die Praxis auch alleine führen und sich mit dem Konzept identifizieren können.
Betrachten wir die Situation gemäß der medizinethischen Prinzipien Patientenautonomie, Benefizienz, Non-Malefizienz und Gerechtigkeit:
Patientenautonomie
Die dargestellte Konstellation bietet zumindest für die infrage stehenden Behandlungsmethoden die Möglichkeit für Patienten, sich durch die Wahl des behandelnden Arztes für das eine oder andere Konzept zu entscheiden. Wichtig ist dabei, wie bei jeder Therapie, gerade aber auch für kosmetische Dienstleistungen, eine umfassende Risikoaufklärung.
Bezüglich der Umstellungen in Praxiskonzept und -führung besteht diese Wahlmöglichkeit auf lange Sicht nicht. Hier werden sich Patienten, die bis zuletzt die Behandlung durch die Elterngeneration bevorzugt und die Konzepte des Juniors abgelehnt haben, entweder durch den Sohn nach „traditioneller Methode“ (sofern er dies anbietet) behandeln und einem Praxiswechsel entscheiden müssen.
Benefizienz
Nicht jede moderne Behandlungsmethode ist automatisch besser als die bewährte. Gelegentlich werden neue Trends auch ohne valide Langzeitdaten auf Grundlage weniger Fallpräsentationen propagiert und nach wenigen Jahren stillschweigend in der Schublade der zahnmedizinischen Irrwege verstaut, da sich ihr Nutzen als fragwürdig herausstellt oder sich schädliche Folgen als zu groß erweisen. Andererseits gibt es auch viele Innovationen
in der Zahnmedizin, die das Potenzial für massive Verbesserungen in der Patientenversorgung haben. Hier gilt es, idealerweise im offenen Gespräch zwischen den Generationen die Chancen und Risiken abzuwägen und gemeinsam über die Einführung dieser Therapieoptionen zu entscheiden.
Non-Malefizienz
Auch hier ergeben sich Argumente für die eine und die andere Seite. Sofern aktuelle Behandlungsmethoden weniger invasiv sind oder präventiv ansetzen und so den Behandlungsumfang reduzieren, wäre ein entsprechender Umstieg im Sinne des Nicht-Schadens-Gebots. Invasive Eingriffe aus rein kosmetischen Gründen bedürfen einer sorgfältigen Prüfung des vorhandenen Leidensdrucks und des Umfangs des gesetzten Eingriffs in den gesunden Körper. In Anbetracht des bisherigen Praxiskonzepts und zum Schutze der Patienten sollten diese keinesfalls proaktiv angepriesen werden.
Gerechtigkeit
Die beiden Aspekte dieses Prinzips sind im aktuellen Fall die vom Vater eingeforderte Kollegialität und die vom Sohn bisher aus Sicht des Vaters rücksichtslos praktizierte Therapiefreiheit.
Der Vater würde sich wünschen, dass der Sohn im Hinblick auf die lange Praxistradition das etablierte Konzept fortführt und auf diesem Wege ihm und den Patienten die Kontinuität bewahrt. Der Sohn und zukünftige Praxisinhaber möchte das Erlernte und Innovative, das er in der Stadtpraxis zu schätzen wusste, auch in der eigenen Praxis umgesetzt sehen und kann die Vorbehalte aufseiten der Elterngeneration nicht nachvollziehen. Kollegiale Zusammenarbeit bedeutet, in wertschätzender Weise und gegenseitigem Respekt auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten. Dieses Ziel ist üblicherweise über das Praxiskonzept definiert.
Solche Ziele können sich im Laufe der Zeit und durch den Praxiseinstieg eines Partners oder in diesem Fall durch den Sohn ändern. In einem solchen Fall muss dies aber klar untereinander und insbesondere auch gegenüber den Angestellten der Praxis kommuniziert werden. Schließlich sollen sie das Praxiskonzept und diese Ziele in ihrer Berufsausübung leben und sich auch damit identifizieren können.
Nur so lässt sich ein gutes Betriebsklima erhalten oder etablieren. Zudem ist es den Mitarbeitern gegenüber nicht gerecht und sorgt für Verunsicherung, wenn sie den schwelenden Konzept-Zwist zwischen Vater und Sohn ausbaden müssen.
Fazit
Der hier dargestellte Konflikt zwischen Vater und Sohn – respektive Praxisinhaber und Juniorpartner jeweils in Personalunion – fordert sowohl im Sinne der Patienten als auch des Teams und der erfolgreichen Fortführung der Praxis Zugeständnisse auf beiden Seiten.
Dafür ist es zielführend, wenn die beiden Parteien sich offen mit den Themen auseinandersetzen, Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Aspekte abwägen und – sofern in einzelnen Punkten keine klare Entscheidung für oder gegen ein Konzept getroffen werden kann – beispielsweise im Sinne eines Stufenkonzepts oder beidseitig tolerierten Nebeneinanders von zwei Systemen für die gemeinsam praktizierte Zeit in der Praxis tragbare Kompromisse finden.
Diese Konstellation bietet nicht zuletzt auch die Möglichkeit, die alternativen Therapieansätze zu vergleichen und somit das „Beste aus beiden Welten“ für das künftige Praxiskonzept zu übernehmen. Dies funktioniert häufig, aber leider nicht immer.
Bei völliger Unvereinbarkeit der Interessen bleiben letztlich nur die „Worst-Case-Varianten“: Ausstieg des Sohnes und Neugründung oder Übernahme einer anderen Praxis oder die Übernahme der elterlichen Praxis durch den Sohn und der vorzeitige Ruhestand der Eltern. Diese letztgenannten Varianten sind aufgrund der familiären Beziehung der Beteiligten auf jeden Fall zu vermeiden, sofern das möglich ist.