„Lassen Sie den Patienten ausreden!“
Herr Dr. Michiels-Corsten, Sie forschen mit Prof. Dr. Norbert Donner-Banzhoff und Ihrem Team zur Rolle des Patienten im ärztlichen Konsultations- und Diagnoseprozess. Warum ist dieser Ansatz so wichtig?
Dr. Matthias Michiels-Corsten: Die Wege zu einer Diagnose sind komplex und für Außenstehende oft undurchsichtig. Selbst Studierenden ist oft schwer zu vermitteln, was da eigentlich passiert. Unser Ziel ist es, die Prozesse zu verstehen und transparent zu machen. Nur so können wir diese reflektieren, verbessern und angehenden Kolleginnen und Kollegen beibringen.
Wie läuft ein ärztliches Konsultationsgespräch in der Regel ab?
Wir konnten zeigen, dass die meisten Konsultationen mit einer offenen Phase – dem sogenannten „induktiven Streifen“ – beginnen. In dieser Phase werden die Patientinnen und Patienten aufgefordert, ihre Symptome frei zu schildern. Daran schließen sich dann meist gezielte Strategien an, bei denen die Ärztinnen und Ärzte durch spezielle Fragen oder Tests Hypothesen festigen und nach Möglichkeit bestätigen oder verwerfen.
Und was sollte Ihren Erkenntnissen zufolge anders laufen, um den Diagnoseprozess effektiver zu gestalten?
Den Großteil der diagnostisch wichtigen Informationen erhielten die Ärztinnen und Ärzte in unseren Studien während der ersten offenen Phase des induktiven Streifens. Wir sehen diese Phase als sehr wichtig und gewinnbringend für alle Parteien an. Den Patienten sollte also bewusst Zeit und Raum gegeben werden, ihre Beschwerden zu schildern. Die ärztliche Rolle sollte sich in dieser Phase auf ein aktives Zuhören konzentrieren, das heißt auch die Patienten ausreden zu lassen.
Der Patient soll bei der Diagnose also eine aktive Rolle übernehmen. Welche Vorteile sehen Sie in dem Prozess, den Sie als „induktives Streifen“ bezeichnen?
Die Patientinnen und Patienten führen uns Ärzte – sozusagen wie „einen schnüffelnden Hund an der Leine“ – an die wichtigen und entscheidenden Stellen des sehr großen und weiten „diagnostischen Raums“. Dort angelangt können die folgenden eher ärztlich dominierten Strategien mit weiteren Fragen und Tests gezielt eingesetzt werden. Vielleicht kann dadurch auch ein Zuviel an Untersuchungen vermieden werden.
Wie können Ärztinnen und Ärzte davon profitieren?
Wenn man sie denn lässt, unterstützen die Patienten ihre Ärzte aktiv bei der Diagnosestellung. So kann ein zeitaufwendiges Suchen „an den falschen Stellen“ vermieden werden. Es könnte durchaus sein, dass Ärztinnen und Ärzte effizienter werden in ihrer Diagnosestellung. Außerdem konnte in anderen Untersuchungen gezeigt werden, dass aktives Zuhören auch die Patientenbindung und die Therapietreue vergrößern kann.
Und welchen Benefit hat der Patient?
Die Patienten sehen sich mit einem wertschätzenden und zuhörenden Arzt oder Ärztin konfrontiert. Durch ihre Ausführungen und Schilderungen leiten sie den ärztlichen Akteur an die Stelle, um die es geht. So kann ihnen zielgerichtet und schnell geholfen werden. In weiteren Untersuchungen haben Patienten zudem das Zuhören an sich als beruhigend und entlastend beschrieben.
Was empfehlen Sie Ärztinnen und Ärzten, um das aktive Zuhören zu trainieren?
Im ersten Schritt sollte der Diagnoseprozess transparent gemacht werden. Nur wenn verstanden wird, was hier passiert, kann man sich überhaupt darauf einlassen. Ärzte sollten sich zu Beginn der Konsultation mit vorschnellen Unterbrechungen und Nachfragen zurückhalten. Das kann man sehr gut trainieren, indem zum Beispiel Rede-Pausen bewusst toleriert werden. Es klingt banal, aber wenn Patienten ausreden dürfen, spart es am Ende Zeit und hilft uns Ärzten bei der Diagnosestellung.
Das Gespräch führte Gabriele Prchala.
Eine Patientenzentrierter Ansatz verbessert die Diagnose
Bei der Diagnosefindung ist es von elementarer Bedeutung, dass die Patienten eine aktive Rolle einnehmen. Das haben Forschungsarbeiten der Universität Marburg ergeben. In einer kürzlich veröffentlichten Studie hat ein Wissenschaftlerteam um Prof. Dr. Norbert Donner-Banzhoff und Dr. Matthias Michiels-Corsten belegt, dass die Patienten selbst wesentlich zum Diagnoseprozess beitragen können: Sie sollten zunächst ihre Beschwerden frei schildern – ein Prozess, den die Wissenschaftler als „induktives Streifen“ (inductive foraging, IF) bezeichnen. Und der Arzt soll sie ausreden lassen.
Das Team hat in der Studie bei zwölf Hausärzten 134 Konsultationen ausgewertet, in denen es um die Diagnose neu aufgetretener Symptome ging. Die Analyse erfolgte sowohl qualitativ als auch quantitativ. Durchschnittlich dauerten die Konsultationen rund zehn Minuten. Laut der Studie wurden fast alle Konsultationen (91 Prozent) mit diagnostischen Episoden im Sinne des induktiven Streifens eröffnet. Das IF war die Strategie mit dem größten Beitrag an diagnostischen Informationen, die während der Konsultation gesammelt wurden (31 Prozent aller Hinweise). Die Hausärzte zeigten eine breite Palette von Taktiken, um ihre Patienten zu ihrem IF einzuladen und diese dabei zu unterstützen. Beendet wurde das IF häufiger von den Hausärzten als von den Patienten (57 Prozent vs. 43 Prozent).
Fazit der Studie: Die Patientenbeteiligung durch das IF leistet einen wesentlichen Beitrag im Diagnoseprozess. Das Autorenteam geht davon aus, dass ein patientenzentrierter Ansatz erheblich zur Verbesserung der Diagnose beiträgt.
Die Studie: Matthias Michiels-Corsten, Anna M. Weyand, Judith Gold, Stefan Bösner, Norbert Donner-Banzhoff: „Inductive foraging: patients taking the lead in diagnosis, a mixed-methods study,“ Family Practice 2021, 1-7. doi.org/10.1093/fampra/cmab144 Downloaded