Die Expertise der Selbstverwaltung bleibt außen vor
Der Minister sprach vor der Presse von einem Neustart: „Deutschlands Gesundheitswesen hängt in der Digitalisierung um Jahrzehnte zurück. Das können wir nicht länger verantworten." Die Lösung sieht Lauterbach darin, die elektronische Patientenakte (ePA) bis Ende 2024 für alle zu erschließen und das elektronische Rezept (E-Rezept) alltagstauglich zu machen. Die gematik, die bisher nur zu 51 Prozent in der Hand des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) lag, soll zu 100 Prozent vom Bund getragen werden.
Bis 2025 sollen 80 Prozent der GKV-Versicherten über eine ePA verfügen, umriss das BMG die neue Strategie. Vorgesehen sei eine Opt-out-Lösung, bei der Versicherte aktiv widersprechen müssen, wenn sie die ePA nicht nutzen wollen. Bis Ende 2025 sollen 80 Prozent der ePA-Nutzer, die in medikamentöser Behandlung sind, über eine digitale Medikationsübersicht verfügen. Außerdem sollen bis Ende 2026 mindestens 300 Forschungsvorhaben mit Gesundheitsdaten durch das neue Forschungsdatenzentrum Gesundheit realisiert werden.
Zwei neue Gesetzesvorhaben sollen es richten
Zur Digitalstrategie gehören zwei Gesetzesvorhaben: das Digitalgesetz, das den Behandlungsalltag mit digitalen Lösungen verbessern soll, und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, mit dem Gesundheitsdaten für die Forschung erschlossen werden sollen. Das Ganze soll in den nächsten Wochen erfolgen, ein genauer Zeitplan liegt noch nicht vor. Sowohl die Pläne zur ePA wie auch die Pläne zur gematik sollen im Digitalgesetz umgesetzt werden.
Was in der Zahnärzteschaft auf heftige Kritik stößt: Auf die Expertise der Selbstverwaltung wolle Lauterbach in Zukunft offensichtlich verzichten, schätzt die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) das Vorhaben ein. Die 100-prozentige Trägerschaft des Bundes bedeute, dass die Organisationen der Selbstverwaltung, darunter Zahnärzte, Ärzte und Apotheker, künftig in der gematik nicht mehr stimmberechtigt sind. Dipl.-Stom. Jürgen Herbert, BZÄK-Vorstandsreferent für Telematik, kommentierte: „Bereits 2019 hat das BMG 51 Prozent der Anteile der gematik übernommen. Jetzt wird der letzte Schritt zur vollständigen Kontrolle vollzogen. Das kann man konsequent finden. Ob der Verzicht auf die Expertise der Leistungserbringerorganisationen allerdings zu Verbesserungen führt und die Akzeptanz der Telematik erhöht, ist äußerst fraglich.“
Herbert ging außerdem auf die ePA ein: Dass das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) bei der ePA künftig nur noch beratend tätig sein soll, lasse befürchten, dass das Datenschutzniveau herabgesenkt werden könnte. Das sei kritisch zu sehen. Zudem müsse die Diskussion darüber, unter welchen Bedingungen Gesundheitsdaten für Forschungszwecke bereitgestellt werden, in die Mitte unserer Gesellschaft getragen und nicht von Staats wegen verkündet werden, so der BZÄK-Telematikexperte.
Digitalisierung „mit der Brechstange“
Eine kritische Bewertung kommt auch von der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV). „Selbstverständlich steht es dem Bund als Mehrheitsgesellschafter der gematik frei, über die Zusammensetzung der Gesellschafter zu entscheiden“, erklärte Dr. Wolfgang Eßer, Vorsitzender des KZBV-Vorstands. „Mit Blick auf die Finanzierung der zukünftigen Digitalagentur durch den Bund statt durch Versichertengelder begrüßt die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung diesen Schritt, allzumal dieser auch die Verantwortung für die zentral gewünschten Digitalisierungsmaßnahmen im Gesundheitswesen eindeutig adressiert. Inwieweit der Verzicht auf die Expertise der Leistungserbringer die Akzeptanz und die Umsetzung zukünftiger Maßnahmen erhöht, sollte seitens des Ministers einer nochmaligen kritischen Betrachtung unterzogen werden.“
Eßer weiter: „Offensichtlich hat sich der Gesundheitsminister dazu entschieden, Gesundheits- und Digitalisierungspolitik ohne die Selbstverwaltung und deren Expertise zu machen. Stattdessen scheint er auf Politik vom grünen Tisch und zunehmende Zentralisierung zu setzen. Aus meiner Sicht eine fatale Fehlentscheidung mit schlimmen Folgen. Eine Digitalisierung des Gesundheitswesens mit der Brechstange und gegen diejenigen umzusetzen zu wollen, die das Gesundheitswesen mit ihrer täglichen Arbeit auf ihren Schultern tragen, wird scheitern.“
Kritik an den gematik-Plänen übt auch die Ärzteschaft. Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. Klaus Reinhardt, erklärte, es sei absurd, dass nun ausgerechnet diejenigen Akteure vollständig aus der gematik gedrängt werden sollten, die sich seit vielen Jahren für genau diese Ziele einsetzen. Reinhardt weiter: „Um es klar auszudrücken: Schon bisher kann das Bundesgesundheitsministerium über die Mehrheit seiner Gesellschafteranteile in der gematik alle Entscheidungen treffen. Geholfen hat das wenig, weil man nicht ausreichend auf die Praktiker der Versorgung gehört hat.“ Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat sich bisher noch nicht zu den gematik-Plänen geäußert.
„Eine Verstaatlichung der gematik ist inakzeptabel“
Ähnlich kritisch zeigte sich auch Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes. Sie bezweifelte, dass es sinnvoll sei, zentrale Akteure von der Trägerschaft auszuschließen. Der Blick auf andere staatliche Digitalisierungsprojekte, wie beispielsweise das Bürgerportal, stimme leider nicht optimistisch, sagte sie und sprach auch die Finanzierung der Pläne an: „Wir gehen davon aus, dass eine eventuelle künftige gematik als staatliche Institution auch vom Staat finanziert wird.“
Die Verstaatlichung der gematik ist auch aus Sicht des Verbandes der Ersatzkassen (vdek) inakzeptabel. „Der Staat bestimmt und die GKV soll zahlen – so geht das nicht“, erklärte Jörg Meyers-Middendorf, Abwesenheitsvertreter der vdek-Vorstandsvorsitzenden. „Eine Digitalagentur muss von der gemeinsamen Selbstverwaltung getragen werden, damit die Interessen der Versicherten, der Leistungserbringer und der Beitragszahler adäquat vertreten werden.“
Unterschiedliche Reaktionen aus den Fachverbänden gibt es auch zu den Plänen rund um die ePA. Laut BÄK-Präsident Reinhardt werde die Digitalisierung nur dann Erfolg haben, wenn sie sowohl Patienten als auch Ärzten einen spürbaren Nutzen bringe. Die ePA müsse sowohl die Sicherheit der Patientendaten gewährleisten als auch eine praktikable Befüllung und einen einfachen Zugriff auf die in der Akte abgelegten Daten sicherstellen. Für die KBV erinnert das derzeitige Vorgehen der Politik fatal an die Fehler der vergangenen Jahre bei der Digitalisierung, als — teilweise unausgereifte — Anwendungen als verbindlich erklärt wurden. Die ePA sei zu wichtig, um überhastet angestoßen zu werden, so die KBV.
„Schweigen bedeutet nicht Zustimmung“
Von den Krankenkassen kommt hingegen Lob für die Pläne zur ePA: Der Zentralschalter zur Beschleunigung der Digitalisierung heiße Opt-out, formulierte die Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes Carola Reimann. Für Doris Pfeiffer hat die ePA das Potenzial, zum Herzstück eines digital modernisierten Gesundheitswesens zu werden. Allerdings könne diese nur dann selbstverständlicher Teil der Versorgung sein, wenn ihre Nutzung durch einen einfachen und möglichst intuitiven Zugang alltagstauglich ausgestaltet werde, sagte sie.
Und was sagt die Patientenseite? Dringend plädiert der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, dafür, die Pläner zur ePA nachzubessern.Dem Bürger dürfe nicht die Kontrolle über seine medizinischen Informationen entzogen werden. Brysch: „Denn Schweigen bedeutet nicht Zustimmung. Abzulehnen ist zudem, nicht technisch versierte Menschen in ihren Rechten zu beschneiden. Dazu gehören mehr als 20 Prozent der über 65-Jährigen.“
Datenschutzrechtlich ist Opt-out möglich
Laut Auffassung des Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber ist die geplante Opt-out-Regelung bei der ePA grundsätzlich möglich. Es gebe keinen Ausschluss einer Opt-out-Regelung aus datenschutzrechtlichen Gründen, unterstrich er vor der Presse bei der Vorstellung des Tätigkeitsberichts für das Jahr 2022. Er wolle allerdings die konkrete Umsetzung abwarten, um diese zu prüfen, sagte er.
Entscheidend sei letztlich die Frage, wie einfach und klar das zugrundeliegende Widerspruchsrecht von den Nutzern ausgeübt werden kann. Allerdings lägen zurzeit eben noch keine konkreten Umsetzungspläne seitens des Bundesgesundheitsministeriums vor. Sobald ein Gesetzentwurf vom Bundeskabinett beschlossen ist, werde er eine ausführliche Stellungnahme abgeben.
Zur Digitalstrategie gehören zwei Gesetzesvorhaben: Das Digitalgesetz, das den Behandlungsalltag mit digitalen Lösungen verbessern soll, und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, mit dem Gesundheitsdaten für die Forschung erschlossen werden sollen:
Das Digitalgesetz
Bis Ende 2024 soll die ePA für alle gesetzlich Versicherten eingerichtet werden (Opt-Out).
Das E-Rezept soll zum 1. Januar 2024 verbindlicher Standard in der Arzneimittelversorgung und seine Nutzung stark vereinfacht werden: Es kann dann mit der eGK und mit der ePA-App eingelöst werden.
Ungewollte Wechselwirkungen von Arzneimitteln sollen vermieden werden, indem – in enger Verknüpfung mit dem E-Rezept – die ePA für jeden Versicherten mit einer vollständigen, weitestgehend automatisiert erstellten digitalen Medikationsübersicht befüllt wird.
Die gematik wird zu einer Digitalagentur in 100-prozentiger Trägerschaft des Bundes weiterentwickelt „und in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt".
Ein interdisziplinärer Ausschuss, der sowohl mit Vertretern des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) wie auch mit Vertretern aus Medizin und Ethik besetzt sein wird, soll künftig die Digitalagentur bei allen Entscheidungen zu Fragen des Datenschutzes, der Datensicherheit, der Datennutzung und der Anwenderfreundlichkeit beraten.
Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG)
Eine zentrale Datenzugangs- und Koordinierungsstelle soll aufgebaut werden, die den Zugang zu Forschungsdaten aus verschiedenen Quellen (wie Krebsregister, Krankenkassendaten) ermöglichen soll. Die Verknüpfung unterschiedlicher Datenquellen soll über Forschungspseudonyme ermöglicht werden. Die Daten sollen dezentral gespeichert bleiben.
Die federführende Datenschutzaufsicht für bundesländerübergreifende Forschungsvorhaben soll auf alle Gesundheitsdaten erweitert werden.
Das Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ) beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) soll weiterentwickelt werden. Künftig soll auch die forschende Industrie dort Anträge auf Datenzugang stellen können.
Die Datenfreigabe aus der ePA soll vereinfacht und in der ePA-App gesteuert werden (Opt-out). Pseudonymisierte ePA-Daten sollen zu Forschungszwecken automatisch über das FDZ abrufbar sein.