Riesiger Umsatz mit fragwürdigen Produkten
Der Medizinische Dienst Bund (MD-Bund) betont, dass der tatsächliche Umsatz, der mit Selbstzahlerleistungen erzielt wird, wahrscheinlich weitaus größer ist als 2,4 Milliarden Euro. Denn: Auch gesetzlich Versicherte unter 18 und über 80 Jahren nehmen IGeL in ärztlichen Praxen in Anspruch. Die wirtschaftliche Bedeutung des IGeL-Marktes sei demzufolge „enorm“. Beim Preis gebe es dabei große Unterschiede zwischen den einzelnen Selbstzahlerleistungen: Während die häufig verkaufte Vitamin-D-Bestimmung rund 30 Euro kostet, liegen komplexere Augenoperationen bei mehreren tausend Euro. Für den Bericht hat das Marktforschungsinstitut forsa 2.013 Personen im Alter von 18 bis 80 Jahren befragt.
Als „besorgniserregend“ bezeichnete Prof. Dr. Jonas Schreyögg vom Lehrstuhl für Management im Gesundheitswesen der Universität Hamburg bei der Vorstellung des IGeL-Reports im Dezember in Berlin, „dass die meisten Patientinnen und Patienten viel zu wenig Wissen haben, um eine informierte Entscheidung für oder gegen eine IGeL treffen zu können“. So habe die Befragung gezeigt, dass zwei von drei Versicherten von der falschen Annahme ausgehen, es handele sich bei IGeL um medizinisch notwendige Leistungen, sagte Schreyögg, der den Report wissenschaftlich begleitet hat.
Viele Versicherte denken, IGeL seien medizinisch notwendig
Problematisch ist dabei laut dem Papier, dass IGeL in den Praxen zwar durchaus als Selbstzahlerleistungen benannt, oftmals jedoch „fälschlicherweise als medizinisch notwendige Leistungen verkauft werden, für die die Krankenkassen nicht aufkommen“. Dazu passt, dass nach Angaben des Reports über die Hälfte der Versicherten sagte, dass IGeL eine gesundheitsfördernde Ergänzung zu den Leistungen der GKV sind und wichtig für den Erhalt der Gesundheit.
Dr. Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des MD-Bund, machte klar, dass aus Sicht seiner Organisation von Gesundheitsförderung keine Rede sein könne. Er verwies auf das Infoportal IGeL-Monitor, für das der Medizinische Dienst seit 2012 Selbstzahlerleistungen nach wissenschaftlichen Kriterien untersucht und bewertet. IGeL, deren Nutzen nicht durch wissenschaftliche Studien belegt sind oder bei denen Hinweise oder Belege für mögliche Schäden vorliegen, werden im IGeL-Monitor mit „unklar“, „tendenziell negativ“ oder „negativ“ bewertet. „Die Gesamtbilanz der vom IGeL-Monitor bewerteten Angebote ist seit Jahren ausgesprochen ernüchternd“, betonte Gronemeyer. „30 der unter die Lupe genommenen Bewertungen schneiden mit 'negativ' oder 'tendenziell negativ' ab. Bei 23 weiteren Bewertungen ist das Ergebnis 'unklar'. Drei Leistungen werden mit 'tendenziell positiv' bewertet, keine einzige mit 'positiv'. Medizinisch notwendig sind diese Leistungen nie – auch wenn hin und wieder das Gegenteil behauptet wird.“
Interessant: Die für den IGeL-Report befragten Versicherten nannten insgesamt 134 verschiedene IGeL – also weit mehr als die 56 im IGeL-Monitor erfassten Angebote. Eine vollständige Liste der Selbstzahlerleistungen existiert nicht, merkt der MD-Bund an.
„Medizinisch notwendig sind IGeL nie – auch wenn hin und wieder das Gegenteil behauptet wird.“
Dr. Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des MD-Bund
Auch das moniert der Report: Regeln, die beim Verkauf von IGeL von den ärztlichen Praxen einzuhalten sind, werden nicht immer beachtet. Gronemeyer: „So wird Patientinnen und Patienten oftmals der vermeintliche Nutzen von IGeL angepriesen, während über das Schadensrisiko nicht informiert wird.“ Der gesundheitspolitische Fokus sollte daher zukünftig darauf liegen, die Patientinnen und Patienten in den Arztpraxen besser zu informieren und die Praxen zum Beispiel dazu zu verpflichten, unabhängige schriftliche Informationen zu ihren Selbstzahlerleistungen vorzuhalten und auszuhändigen.
Die Gynäkologie bleibt Top-Anbieter
Der IGeL-Report 2024 zeigt, dass mit 7,5 Millionen Leistungen pro Jahr Selbstzahlerleistungen in gynäkologischen Praxen mit Abstand am häufigsten in Anspruch genommen werden. Dazu gehört der transvaginale Ultraschall der Gebärmutter und der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung, für den pro Jahr 143 Millionen Euro ausgegeben werden. Diese IGeL hob der MD-Bund erneut als Negativbeispiel hervor: „Bei diesen Untersuchungen kann es zu vielen falsch-positiven Ergebnissen und dadurch zu unnötigen weiteren Untersuchungen und Eingriffen kommen, die den Patientinnen schaden können. Gleichzeitig ist nicht belegt, dass das Risiko an Eierstockkrebs zu sterben, damit verringert werden kann.“
Bei der Inanspruchnahme von IGeL auf Platz zwei folgte die Allgemeinmedizin mit 4,5 Millionen Leistungen. Hier fragen Versicherte vor allem ein Blutbild und eine Vitamin-D-Messung zur Gesundheitsvorsorge sowie reisemedizinische Impfungen nach. Auf Platz drei bis fünf liegen die Augenheilkunde mit 4,4 Millionen, die Orthopädie und Unfallchirurgie mit 2,1 Millionen und die Urologie mit 1,7 Millionen Leistungen.
Die höchsten Umsätze durch den Verkauf von IGeL erzielen laut der Analyse die Fachrichtungen Augenheilkunde (544 Millionen Euro), Gynäkologie (543 Millionen), Orthopädie und Unfallchirurgie (397 Millionen Euro), Allgemeinmedizin (341 Millionen Euro) und Dermatologie (116 Millionen Euro).
Die Umfrage ergab, dass sich Alter, Geschlecht und Wohnort auf die IGeL-Nutzung auswirken.
Regionen: In den südlichen Bundesländern werden IGeL mit 37 Prozent häufiger in Anspruch genommen als in den westlichen (33 Prozent), den nördlichen (31 Prozent) oder den östlichen (26 Prozent). Ein Stadt-Land-Gefälle war nicht feststellbar.
Geschlechter: 41 Prozent der Frauen entscheiden sich für Selbstzahlerleistungen. Bei den Männern sind es 22 Prozent.
Alter: Mit zunehmendem Alter nimmt die Inanspruchnahme von IGeL zu. Ab 45 Jahren nutzen jede zweite Frau und annähernd jeder dritte Mann (29 Prozent) Selbstzahlerleistungen.
Zahnärztliche Leistungen bleiben außen vor
Auch in der Erhebung für den IGeL-Report 2024 wurden zahnärztliche Leistungen wieder nicht berücksichtigt. Dabei handele es sich „nicht um IGeL im eigentlichen Sinne, sondern in der Regel um Zuzahlungen, die mittlerweile auch von vielen Krankenkassen als Satzungsleistungen erstattet oder bezuschusst werden“, teilte ein Mitarbeiter am IGeL-Report auf unsere Anfrage mit.
Hier finden Sie den IGeL-Monitor des Medizinischen Dienstes Bund.