Interview mit IDZ-Direktor Prof. Dr. A. Rainer Jordan

„Die Karieslast konnte bei Kindern um 90 Prozent gesenkt werden“

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Neun Jahre nach der Veröffentlichung der Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V) liegen die Ergebnisse der DMS • 6 vor. Sie ist die größte oralepidemiologische Studie Deutschlands und liefert umfangreiche Erkenntnisse zur Mundgesundheit der Bevölkerung in Deutschland. Durchgeführt wurde sie vom Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ). Anlässlich der Vorstellung der DMS • 6 am 17. März in Berlin haben die zm mit dem wissenschaftlichen Leiter des IDZ, Prof. Dr. A. Rainer Jordan, über Deutschlands wichtigste zahnmedizinische Untersuchung gesprochen.

Herr Prof. Jordan, was waren die grundlegenden Ziele der DMS • 6?

Prof. Dr. A. Rainer Jordan: Wir haben insgesamt fünf Studienfragen entwickelt. Primär wollten wir die die Verbreitung oraler Erkrankungen ermitteln. Hierzu dienen uns die querschnittlichen Daten aus der aktuellen Erhebungswelle: 1. Wie hoch sind die aktuellen Prävalenzraten von Munderkrankungen? 2. Welche Zusammenhänge bestehen zwischen der Mundgesundheit und anderen Merkmalen der Studienteilnehmenden?  Die dritte Frage basiert auf dem Vergleich der Querschnittsdaten mit früheren Deutschen Mundgesundheitsstudien (Trend): 3. Wie hat sich der Mundgesundheits- und Versorgungsstatus in Deutschland von 1989 bis 2023 entwickelt?  Für die letzten beiden Fragen werden Längsschnittdaten benötigt:  4. Wie verändern sich orale Erkrankungen im Laufe des Lebens?  5. Welche individuellen Merkmale beeinflussen den Verlauf von (neuen) oralen Erkrankungen?

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Prof. Dr. A. Rainer Jordan ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) und verantwortlich für die DMS • 6.

Worin unterscheidet sich die DMS • 6 in der Methodik und im Studiendesign von der DMS V?

Die bisherigen Deutschen Mundgesundheitsstudien waren methodisch sogenannte reine Querschnittsuntersuchungen. Das bedeutet, dass zu jeder Untersuchungswelle neue Studienteilnehmende untersucht wurden. Mit diesem Vorgehen kann man gut Prävalenzen abschätzen, also die Verbreitung von Erkrankungen, beispielsweise die Verbreitung von Parodontitis, zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das haben wir dieses Mal auch gemacht.

Zusätzlich haben wir in der DMS • 6 auch Studienteilnehmende aus der DMS V von 2014 nach acht Jahren wieder untersucht. Dies ermöglicht uns, ganz andere Fragestellungen zu beantworten, nämlich kausale, die nach dem Warum. Hierzu benötigt man – wissenschaftlich betrachtet – zwei Messzeitpunkte, so dass klar ist, dass eine Ursache (zum Beispiel Rauchen) schon vor der Wirkung (zum Beispiel Parodontitis) bestand. Kausale Fragen von können wir mit der DMS • 6 daher zum ersten Mal beantworten.

Gab es bei den Untersuchungen, die vom Oktober 2022 bis zum September 2023 dauerten, besondere Herausforderungen?

Wir hatten mit der Teilnahmebereitschaft der eingeladenen Menschen zu kämpfen. Um repräsentative Aussagen zur Bevölkerung in ganz Deutschland treffen zu können, wurden unsere Zielpersonen per Zufall von den Einwohnermeldeämtern gezogen. Das ist ein gutes Vorgehen, um in der Studie ein kleines Abbild der gesamten Bevölkerung zu erreichen. Dazu ist es wichtig, dass möglichst viele Personen aus dieser Stichprobenziehung auch teilnehmen. In der DMS V hat etwa jeder Zweite an unserer Untersuchung teilgenommen, dieses Mal nur etwa jeder Dritte. Viele Menschen haben uns zugetragen, dass das Vertrauen in das Gemeinwohl seit Corona gelitten hat und sie deshalb lieber nicht mitmachen möchten. Das ist aus meiner Sicht nicht nur schade, sondern auch ein Problem für die Epidemiologie. Glücklicherweise haben wir verschiedene wissenschaftliche Methoden, wie man feststellen kann, ob eine erreichte Probandenanzahl ausreichend ist für die Bevölkerungsrepräsentativität. Wir konnten das trotz der Probleme bei der Probandenrekrutierung sicherstellen.

Der Titel der DMS • 6 lautet „Prävention wirkt“. Er greift damit ein übergeordnetes Ergebnis der Untersuchung auf. An welchen Ergebnissen lässt sich dies besonders festmachen?

Seit der Einführung der Gruppen- und Individualprophylaxe Ende der 1990er-Jahre konnten wir die Karieslast bei Kindern um 90 Prozent senken. Ein fast einmaliger Erfolg in der primären Prävention chronischer Erkrankungen. Jetzt können wir sicher sagen, dass der Paradigmenwechsel von einer kurativen Krankenversorgung hin zu einer präventionsorientierten Gesundheitsversorgung nachhaltig greift: Zahnlosigkeit kommt im jüngeren Erwachsenenalter praktisch nicht mehr vor und der Anteil zahnloser jüngerer Seniorinnen und Senioren ist um 80 Prozent zurückgegangen. Heute sind nur noch 5 Prozent der 65- bis 74-Jährigen zahnlos.

Die Ergebnisse zeigen, dass die intensiven Präventionsbemühungen der Zahnärzteschaft in den vergangenen Jahrzehnten Früchte tragen. Was muss getan werden, dass diese erfolgreiche Entwicklung fortgesetzt werden kann? Und wo gibt es aus Ihrer Sicht noch Verbesserungsbedarf?

Eine Untersuchung aus Andalusien zeigt uns, was passiert, wenn man infolge ihres eigenen Erfolgs die Prävention herunterfährt: Wie ein Bumerang schlägt die Erkrankung zurück. Diesem Fehlschluss sollte man hierzulande nicht unterliegen. Im Gegenteil: Unsere Ergebnisse zeigen ja, welche Bevölkerungsgruppen von der Prävention nicht so erreicht werden. Sie dennoch zu erreichen, benötigt noch mehr Aufwand, als wir bisher betrieben haben.

Nur etwa 20 Prozent der älteren Kinder tragen beispielsweise die gesamte Karieslast ihrer Altersgruppe, während fast 80 Prozent kariesfrei sind: Kariespolarisation nennen wir das. Am Ende des Lebensbogens scheint dasselbe zuzutreffen: Jüngere Seniorinnen und Senioren aus der niedrigen Bildungsgruppe sind mehr als viermal häufiger zahnlos als diejenigen aus der hohen Bildungsgruppe. Einen sozialen Gradienten finden wir leider bei fast allen chronischen Erkrankungen – und es ist offenbar sehr schwierig, dieses Phänomen grundsätzlich zu verhindern, auch wenn wir in der Zahnmedizin diesbezüglich bisher sehr viel erreicht haben.

Was sind die zentralen Ergebnisse im Bereich Parodontitis, der auch ein Themenschwerpunkt der DMS • 6 war, und wie passen sie ins aktuelle Behandlungsgeschehen?

Bei den Parodontalerkrankungen ist erneut eine hohe Erkrankungslast festzustellen. Ganz einfach fällt der Vergleich zu den Vorgängeruntersuchungen nicht. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass eine neue Klassifikation der Parodontalerkrankungen eingeführt wurde. Außerdem ist in der Zwischenzeit eine neue Behandlungsrichtlinie in der gesetzlichen Krankenversicherung gültig, so dass Parodontitis heute in der Praxis anders behandelt wird als zu Zeiten der DMS V. Wir gehen aber davon aus, dass die Änderungen in der Behandlungsrichtlinie zu frisch sind, als dass sich deren Ergebnisse bereits in epidemiologischen Studien niederschlagen.

Wir sehen aber folgenden Trend: Die Menschen in Deutschland behalten viel mehr Zähne im Mund als früher – und im Alter steigt auch der Anteil der Parodontalerkrankungen. Das erscheint logisch, weil nur ein erhaltener Zahn auch krank werden kann: „Teeth at risk“ nennen wir das. Früher waren viele Senioren zahnlos, da gab es auch keine Parodontitis. Dieses Ergebnis ist für mich ein klares Signal, dass wir auch die Prävention im Alter nach vorne stellen müssen. Dies haben wir bei den Kindern vor 35 Jahren für die Karies getan – und die Ergebnisse sind beeindruckend. Ich stelle mir den gleichen Siegeszug bei der Parodontitis vor, wenn auch im Alter die zahnmedizinische Maxime die Prävention sein könnte. Dieses Ziel scheint mir aber viel schwieriger zu erreichen zu sein, weil die allgemeine Gesundheitslage und die Präsenz von Risikofaktoren dort viel komplexer sind als bei Kindern.

Ein weiterer Untersuchungsschwerpunkt war die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation, kurz MIH, bei älteren Kindern. Dabei gab es Unterschiede zur DMS V. Können Sie diese erläutern?

Zunächst einmal handelt es sich vermutlich gar nicht um eine wirklich neue Erkrankung. Aber die Aufmerksamkeit ist in Deutschland seit unserer letzten DMS-Studie darauf gelenkt worden. Das ist gut so, denn die betroffenen Personen können sowohl kosmetische als auch funktionelle Einbußen haben. Auch können die MIH-Zähne so empfindlich sein, dass es schon schmerzhaft ist, sich die Zähne zu putzen. Vor der Präventionsära war die Karieslast bei den Kindern so groß, dass häufig die großen Backenzähne kurz nach ihrem Zahndurchbruch erste Amalgamfüllungen erhalten haben. So war die MIH vermutlich frühzeitig von einer Füllung „maskiert“ und gar nicht mehr zu erkennen. Es ist auch denkbar, dass überhaupt einige Füllungen wegen einer ausgeprägten MIH so früh entstanden sind.

Die wissenschaftliche Systematisierung der MIH als eigenständiges Krankheitsbild hat erst um die Jahrtausendwende stattgefunden. Mittlerweile sind wir besser in der Lage, die MIH von anderen Erkrankungen mit ähnlichem Erscheinungsbild zu unterscheiden. In der aktuellen DMS • 6-Studie liegt die Verbreitung der MIH hierzulande im weltweiten Vergleich im oberen Mittelfeld. Ich denke, dass wir jetzt der tatsächlichen Verbreitung recht nahe gekommen sind in unserer Untersuchung.

Die Ursachen von MIH sind bisher nicht geklärt. Was kann die Zahnärzteschaft tun, um Betroffene bestmöglich zu versorgen?

Danke für die Frage. Da wir die Ursachen noch nicht kennen, sind wir eben auch nicht in der Lage, sie im Sinne der Primärprävention zu verhindern. Aber wir können im Sinne der Sekundärprävention Früherkennung betreiben. Da es sich um eine entwicklungsbedingte Erkrankung handelt, die ihren Entstehungszeitpunkt um die Geburt und bis ins erste halbe Lebensjahr hat und in der Regel die bleibenden Zähne betrifft, ist ein Screening auf MIH ab dem sechsten Lebensjahr (dem Zeitpunkt des Zahndurchbruchs der ersten Molaren) bis zum zwölften Lebensjahr (dem Zeitpunkt des Zahndurchbruchs der zweiten Molaren) sicher sinnvoll. Eine Handreichung – auch als Entscheidungshilfe für die zahnärztliche Praxis – entwickeln wir gerade am IDZ und sie wird den Zahnarztpraxen voraussichtlich Anfang des nächsten Jahres zur Verfügung gestellt.

Welche Bereiche der zahnmedizinischen Versorgung wurden in der DMS • 6 erstmals beleuchtet?

Wie schon erwähnt haben wir erstmalig auch Studienteilnehmende der DMS V erneut untersucht und können die Daten nun weit über die deskriptive Epidemiologie auswerten und analytische Fragestellungen beantworten. Angesichts der weltweiten Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre haben wir außerdem im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Befragung dezidierte Informationen zur Migrationsgeschichte erfasst. Regionale Untersuchungen zur Mundgesundheit von Menschen mit Migrationserfahrung haben gezeigt, dass die Mundgesundheit auch abhängig ist von der sozialen Prägung. Diese und auch die zahnmedizinische Gesundheitsversorgung kann in anderen Ländern aber ganz anders sein und damit Einfluss nehmen auf die Zahn- und Mundgesundheit. Da es auch ein Ziel unserer Studien ist, Risikogruppen für erhöhte Erkrankungslasten zu identifizieren, haben wir uns dieses Mal im Bereich der Migration besonders bemüht. Ziel ist es ja, besonders die Menschen mit unserer Prävention und Versorgung zu erreichen, deren Zugang erschwert ist. Diesen Menschen müssen wir entgegenkommen.

Gab es Ergebnisse, die Sie überrascht haben oder blieb alles im Bereich des Erwartbaren?

Zahnverlust sowie die völlige Zahnlosigkeit sind ein Ergebnis sehr langfristiger Entwicklungen, in der Regel von jahrelanger Karies und/oder Parodontitis. Nun ist es zum zweiten Mal hintereinander zu einer Halbierung der völligen Zahnlosigkeit gekommen ist: Lebte 1997 ein Viertel der jüngeren Seniorinnen und Senioren ohne eigene Zähne sind es heute nur noch 5 Prozent. Eine solche sogenannte Morbiditätsdynamik gibt es normalerweise bei chronischen Erkrankungen nicht. Das ist schon eine Überraschung für mich.

Das Gespräch führte Sascha Rudat.

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