Plädoyer für bessere Zusammenarbeit aller Akteure
Das Gesundheitssystem steht unter enormem Reformdruck. Angesichts eines Milliardendefizits und steigender Beitragssätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), fehlender Fachkräfte, langer Wartezeiten auf Arzttermine sowie Engpässen bei Arzneimitteln sind die Erwartungen an die neue Bundesregierung riesig. Wie lässt sich die Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung auf stabile Beine stellen? Wie kann angesichts des demografischen Wandels und fehlender Pflegekräfte die Pflege organisiert werden? Wie lassen sich Patientinnen und Patienten besser durch das System steuern und wie kann die Arzneimittelversorgung sichergestellt werden? Muss die Krankenhausreform nachgebessert werden? Um diese und weitere Themen ging es beim wissenschaftlichen Symposium der GRPG am 3. April in Berlin.
Ein flammendes Plädoyer für eine bessere Vernetzung der Akteure im Gesundheitswesen und ein Ende der Sektorenaufteilung hielt Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der Siemens-Betriebskrankenkasse SBK, in ihrem Vortrag. Darin stellte sie Ansätze für eine bessere Patientensteuerung vor.
„Raus aus der Sektorenaufteilung"
Zurzeit seien die Versorgungsprozesse lückenhaft, der Zugang für die Patienten erschwert, Leistungen würden willkürlich in Anspruch genommen. „Wir erleben verunsicherte Patienten, die nicht wissen, wo sie hinmüssen“, kritisierte sie. Die Folge sei, dass Patienten selbst mit Bagatellerkrankungen in die Notaufnahme der Krankenhäuser gingen. Auch bei den Leistungserbringern – Ärzten, Pflegekräften, Zahnmedizinischen und Medizinischen Fachangestellte – führe diese Art der Versorgung zu Frust. Das sektorale System sei veraltet. „Wir müssen raus aus der Sektorenaufteilung“, forderte Demmler.
Einen Fachkräftemangel gebe es derzeit noch gar nicht. „Noch nie haben wir so viele Menschen im Gesundheitswesen beschäftigt. Aber trotz eines massiven Ressourceneinsatzes produzieren wir Mangel“, bemängelte Demmler.
Die SBK-Vorständin schlug vor, die Versorgung entlang hybrider qualitativer Patientenpfade zu gestalten. Dies gelinge durch die sektorenunabhängige Vernetzung aller Akteure, gemeinsame Versorgungsplattformen und die direkte Kooperation zwischen Leistungserbringern und Kassen. Technologie und Künstliche Intelligenz müssten dabei sinnvoll genutzt und die Ressource Mensch geschont werden.
Patientenpfade gemeinsam entwickeln
Die Patientenpfade müssten die Verhandlungspartner gemeinsam entwickeln. Elemente dieses Modells seien eine bessere Zugangssteuerung, Personalisierung, Primärärztliche Versorgungssysteme und strategische Vertragspartnerschaften. Wichtig sei, in die Umsetzung zu kommen. Zu starker Regulierung durch den Gesetzgeber erteilte sie dabei eine Absage. „Der Gesetzgeber muss klar formulieren, wo wir hinmüssen. Aber dann soll er uns machen lassen“, betonte Demmler.
Zuvor hatte Prof. Eckhard Nagel, Vorstand Krankenversorgung der Medizinischen Universität Lausitz und der Universität Bayreuth, ausgeführt, wo er Nachholbedarf bei der Krankenhausreform sieht. Zudem informierte er über die Gründung der Medizinischen Universität Lausitz – der ersten medizinischen Fakultät im Land Brandenburg am Standort Cottbus. Vor dem Hintergrund des Ausstiegs aus dem Braunkohletagebau werde die Fakultät aus Bundesmitteln finanziert. Ab 2026 werden dort die ersten Studierenden erwartet, informierte Nagel.
Um Patientensteuerung, Digitalisierung, Gesundheitsförderung, Bürokratieabbau und notwendige Reformen ging es in der Abschlussdiskussion. Kordula Schulz-Asche, seit zwölf Jahren für die Grünen im Bundestag, machte aus ihrer Enttäuschung und ihrem Frust keinen Hehl. Durch die Neuwahlen sei etwa das Pflegeassistenzgesetz „gestorben“. „Wenn wir so weitermachen, werden wir es nicht schaffen, die Bevölkerung adäquat zu versorgen“, stellte sie klar. Ein großes Problem sei der Fachkräftemangel. Es fehlten Strukturen, die gut steuern, und die Menschen erhielten zu spät Hilfe. Kranke kämen in ein „versäultes“ System.
Kritik an „Partikularinteressen“
„Jeder stellt seine Partikularinteressen in den Vordergrund“, sparte Schulz-Asche auch nicht mit Kritik an den Akteuren des Gesundheitswesens. „Es werden eher Privilegien verteidigt, als Menschen gut behandelt.“
Die Grünenpolitikerin forderte eine bessere Koordination der Versorgung und mehr Engagement in der Gesundheitsförderung, etwa durch Quartiersmanagement. „Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene“, betonte sie.
Die Einführung der elektronischen Patientenakte bezeichnete Schulz-Asche als „große Chance“, Informationen verfügbar zu machen. Die Digitalisierung sei ein Hilfsmittel, um Probleme zu lösen, so die Bundestagsabgeordnete.
Laut Dr. Andreas Meusch, Beauftragter des Vorstands der Techniker Krankenkasse (TK), ist die elektronische Patientenakte (ePA) der „deutsche Weg zur Digitalisierung“. „Wir sind hier zum Erfolg verdammt“, betonte er. Digitalisierung könne auch zur Entbürokratisierung beitragen.
Verbindliche Patientensteuerung nötig
Bei der Patientensteuerung sieht der TK-Vorstandsbeauftragte in Deutschland Nachholbedarf. Andere Länder seien bei diesem Thema weiter. „Wir brauchen eine verbindliche Patientensteuerung“, forderte er. Diese müsse auf Anreize setzen. Nötig sei ein „richtiges Assessment“ für die Patienten. Die TK habe bereits vor 20 Jahren ein Konzept zu diesem Thema vorgestellt. Den Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft Gesundheit und Pflege von Union und SPD, ein verbindliches Primärarztsystem einzuführen, begrüßte Meusch. Dies sei überfällig.
Eine „Präventionswende“ hält auch Meusch für notwendig. Diese bleibe aber voraussichtlich aus. Der öffentliche Gesundheitsdienst scheine niemanden zu interessieren. „Deutschland verliert massiv Lebensjahre“, kritisierte der Vorstandsbeauftragte der TK.
„Entbürokratisierungsministerium" gefordert
Dr. Kerstin Kemmritz, ehemalige Präsidentin der Apothekerkammer Berlin, verwies darauf, dass die Apotheken digitalaffin und schon lange „E-Rezept-ready“ gewesen seien. Es gebe aber immer noch Probleme. Die Apotheken bräuchten eine Strukturreform, die bessere Rahmenbedingungen schaffe. „Wenn wir die richtigen Rahmenbedingungen haben, sehe ich einer besseren Vernetzung Chancen“, sagte Kemmritz. Gesundheitsförderung halte sie ebenfalls für wichtig.
Zum Thema Bürokratieabbau sagte die Apothekerin, dies werde seit 20 Jahren gefordert. „Wir müssen dringend ausmisten. Wir bräuchten ein Entbürokratisierungsministerium“, schlug Kemmritz vor. Schulz-Asche hält Bürokratie hingegen nicht für das Hauptproblem. „Wenn man besser zusammenarbeiten würde, müsste man nicht so viel aufschreiben“, stellte die Grünenpolitikerin klar.