„Tabak, Alkohol und verarbeitete Lebensmittel töten“
In dem 159-seitigen Bericht „Kommerzielle Determinanten nichtübertragbarer Krankheiten in der Europäischen Region“ steht, dass fast 7.500 Todesfälle pro Tag Tabak, Alkohol, hochverarbeiteten Lebensmitteln, fossilen Brennstoffen und Arbeitspraktiken zugeschrieben werden können. Arbeitspraktiken spielen jedoch eine eher untergeordnete Rolle (6 Prozent), während Tabak (46 Prozent) und Alkohol (17 Prozent) laut WHO-Bericht die beiden Hauptverursacher sind. Dazwischen liegen fossile Brennstoffe (23 Prozent) und hochverarbeitete Lebensmittel (15 Prozent).
„Diese kommerziellen Produkte und Praktiken tragen zu 25 Prozent aller Todesfälle in der Region bei“, berichtet die WHO. Dabei würden nichtübertragbare Krankheiten wie Krebs, Herzerkrankungen und Diabetes zusätzlich dadurch verschärft, dass kommerzielle Akteure gezielt politische Bemühungen zur Bekämpfung der Krankheitsursachen behindern. Zur Veranschaulichung liefert der Bericht ausgewählte Fallstudien, die zeigen, wie die Industrie Einfluss auf die Gesundheitspolitik nimmt.
„Die Macht der Industrie muss eingedämmt werden“
Die WHO fordert angesichts dieser Bestandsaufnahme „dringende und koordinierte Maßnahmen, um die kommerziellen Determinanten von nichtübertragbaren Krankheiten zu adressieren“. Sie setzt sich für den Aufbau von Zusammenschlüssen ein, die auf den Werten Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit basieren. Die Akteure des öffentlichen Gesundheitswesens werden aufgefordert, Transparenz durchzusetzen und Interessenkonflikten wirksam zu begegnen. Strenge Regulierung sei nötig, „um die Macht der Industrie einzudämmen und die öffentliche Gesundheit zu schützen“, heißt es.
Positiv erwähnt die WHO die 2023 gefassten Pläne des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Kinder vor der Werbung für ungesunde Lebensmittel zu schützen. Inzwischen liegen die Pläne nach einer Intervention der FDP jedoch auf Eis. Derartige Beschränkungen würden der Wirtschaft schaden, argumentiert die Partei. Diese Befürchtung hat jedoch schon im März 2024 ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag von foodwatch widerlegt. Das kam zu dem Schluss, dass die geplanten Beschränkungen der Werbung für ungesunde Lebensmittel die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen effektiv schützen können, ohne die Wirtschaft zu belasten.
35 Verbände fordern Kanzler Scholz zum Handeln auf
„Die Industrie betreibt Panikmache, wenn sie vor einem massiven Einbruch der Werbeetats und einem Untergang der Medienlandschaft warnt. Die Befürchtungen sind übertrieben und unbegründet“, sagte Luise Molling von foodwatch. „Werbeschranken für ungesunde Lebensmittel sind laut Weltgesundheitsorganisation und zahlreichen anderen Fachgesellschaften sind ein zentraler Baustein im Kampf gegen Fehlernährung bei Kindern."
So argumentiert auch ein Zusammenschluss von 35 Verbänden, dem auch die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) angehört und der Ende Juni in einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Forderung erneuerte, so schnell wie möglich gesetzliche Werbeschranken zu verankern. Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Gesetzesvorhaben sei „ein wichtiger Auftrag zum Schutz der Kinder vor Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt“, meldet die BZÄK. Die Regelungen müssten umfassend sein und dort wirken, wo Kinder Werbung ausgesetzt sind – sei es bei TV-Werbung, Außenwerbung oder Influencer-Werbung in den sozialen Medien.
„Die omnipräsente Werbung für ungesunde Lebensmittel hat fatale gesundheitliche Folgen. Eltern müssen tagtäglich gegen eine Milliardenindustrie ankämpfen, die ihre Kinder mit geschickten Marketingtricks lockt“, heißt es in dem offenen Brief weiter. Die Gesundheit der Kinder dürfe nicht zwischen den Interessen der Industrie zerrieben werden. „Die Politik muss den Stillstand beenden und die Gesundheit der Jüngsten in unserer Gesellschaft durch ein starkes Gesetz schützen.“
„Die Politik muss die Jüngsten durch ein Gesetz schützen“
Hinweis auf die Notwendigkeit hierfür liefern in jüngster Zeit auch immer wieder wissenschaftliche Studien: Ende 2023 zeigte etwa eine Untersuchung der Universität Bristol und der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC), dass der Verzehr von hochverarbeiteten Lebensmitteln das Risiko für Krebserkrankungen des gesamten Aerodigestiv-Trakts erhöhen kann – insbesondere für Oropharynx- sowie Adenokarzinome der Speiseröhre. Und jüngst belegten zwei Arbeiten, das der in solchen Lebensmitteln häufig eingesetzte Süßstoff Xylit kardiale Ereignisse begünstigt und übliche Emulgatoren das Diabetes-Typ-2-Risiko deutlich erhöhen.
Literaturliste
Morales-Berstein F, Biessy C, Viallon V, et al. and EPIC Network. Ultra-processed foods, adiposity and risk of head and neck cancer and oesophageal adenocarcinoma in the European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition study: a mediation analysis. Eur J Nutr. 2023 Nov 22. doi: 10.1007/s00394-023-03270-1
Clara Samale et al., Food additive emulsifiers and the risk of type 2 diabetes: analysis of data from the NutriNet-Santé prospective cohort study, The Lancet Diabetes & Endocrinology, Volume 12, Issue 5, P339-349, Mai 2024, DOI: https://doi.org/10.1016/S2213-8587(24)00086-X
Marco Witkowski et al., Xylitol is prothrombotic and associated with cardiovascular risk, European Heart Journal, 2024;, ehae244, https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehae244
World Health Organization. Regional Office for Europe. (2024). Commercial Determinants of Noncommunicable Diseases in the WHO European Region. World Health Organization. Regional Office for Europe. https://iris.who.int/handle/10665/376957.