Sie will sich nicht impfen lassen – darf er sie entlassen?
Für B. nimmt der Schutz der ihm anvertrauten Menschen, die vielfach zur Gruppe der Hochrisikopatienten zählen, einen hohen Stellenwert ein. Er ist überzeugt, dass eine Impfung gegen das Coronavirus nicht nur den Ausbruch der Krankheit, sondern auch die Übertragung auf andere verhindert.
B. will mit gutem Beispiel vorangehen und sich sobald wie möglich impfen lassen. Bei Gesprächen mit seinen Mitarbeitern stellt er allerdings fest, dass ein Teil ihm nicht folgen will. Mehrere Überzeugungsversuche ändern nichts an deren Einstellung. B. teilt allen Angestellten daraufhin mit, dass er zukünftig nicht geimpfte Mitarbeiter nur noch mit rein administrativen Aufgaben ohne jeglichen Patientenkontakt betrauen wird und sich möglicherweise in letzter Konsequenz von ihnen wird trennen müssen, da sie nach seiner Auffassung ohne Impfung ihren eigentlichen beruflichen Tätigkeiten nicht dauerhaft verantwortungsbewusst nachkommen können. Er erklärt ihnen weiterhin, dass er dafür geradestehen müsse, wenn sich einer seiner Patienten mit Corona infiziert, und dass er darüber hinaus selbst entscheidet, wen er beschäftigt.
Sind Drohungen ethisch vertretbar?
Ist das restriktive und auch mit einer Drohung verbundene Vorgehen von B. aus ethischer Sicht vertretbar? Ist die durch das Impfgeschehen berührte körperliche Unversehrtheit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein absoluter Wert oder darf B. den Schutz der Patienten dem gegenüberstellen? Kann man möglicherweise an medizinisches Personal andere Maßstäbe anlegen als an Mitarbeiter außerhalb der Gesundheitsberufe?
Oberfeldarzt Dr. André Müllerschön
Sanitätsversorgungszentrum Neubiberg
Werner-Heisenberg-Weg 39, 85579 Neubiberg
andremuellerschoen@bundeswehr.org
Die juristische Einschätzung
Eine ethische Selbstverpflichtung zur Impfung wäre nicht justiziabel
Der Zahnarzt hält seine Angestellten für verpflichtet, sich sowohl zum eigenen wie zum Schutz der Patienten und Mitarbeiter impfen zu lassen. Nur auf den ersten Blick kann man sich dieser Meinung anschließen.
Das Aufleuchten der beschriebenen, ethische wie rechtliche Aspekte tangierenden Konfliktsituation ist nicht überraschend, stehen in pandemischen Zeiten doch auch zahlreiche andere normative Aspekte plötzlich in der Diskussion, wie kürzlich in einem Aufsatz eindrucksvoll dargestellt wurde [Dominik Groß: Ethische Aspekte einer Pandemie unter besonderer Berücksichtigung von COVID-19, Quintessenz Zahnmedizin 71 [2020], Nr. 12, S. 1342–1355]. Ich denke beispielsweise an die Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit medizinischer und anderer Ressourcen, das Solidaritätsprinzip und die Freiheitsrechte im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie.
Der zahnärztliche Kollege aus dem dargestellten Fall hält seine Angestellten für verpflichtet, sich sowohl zum eigenen Schutz als auch zum Schutz der Patienten und Mitarbeiter impfen zu lassen. Auf den ersten Blick möchte man sich eigentlich dieser Meinung durchaus anschließen. Bei näherer Befassung mit der Problematik merkt aber auch der juristische Laie recht schnell, dass eine solche Impfpflicht nur postuliert werden kann, wenn das Allgemeininteresse daran größer ist als die damit verbundene Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte des Einzelnen. Das könnte in unserem Zusammenhang zum Beispiel in einem über den persönlichen Schutz hinausgehenden, tatsächlichen Schutz vor Virusübertragung auf Dritte („sterile Immunität“) bestehen. Aber genau dazu gibt es bis heute noch keine belastbare wissenschaftliche Evidenz. Und solange diese nicht vorliegt – und damit das überwiegende Allgemeininteresse nicht nachgewiesen ist – stellt die Impfung lediglich einen Akt individueller Prävention dar und eignet sich nicht, zur allgemeinen, rechtlich durchsetzbaren Pflicht erhoben zu werden.
Nichtsdestoweniger richten sich natürlich unser aller Hoffnungen und Zuversicht darauf, dass nicht nur das Individuum vor der Erkrankung durch Corona geschützt wird, sondern der Impfung darüber hinaus auch die strategisch so wichtige Wirkung der „sterilen Immunisierung“ innewohnt.
Vor diesem Hintergrund und aus Angst vor der bedrohlichen Pandemie-Entwicklung ist es natürlich verständlich, wenn Erwartungen und Forderungen formuliert werden, auch ohne ) nicht bestehende Impfpflicht nicht anhängen können.
Angesichts der Rechtslage erscheint eine mit „arbeitsatmosphärischem“ Druck erzeugte Impfbereitschaft als der Dramatik und der auf ganz anderer Ebene sich entfaltenden Problematik nicht angemessen. Vielmehr sollte auf eine Überzeugungsbildung hingewirkt werden, bei der der/die Einzelne mit sich im Reinen sein und sich auch persönlich wohlfühlen kann. Dazu gehören sicherlich Zeitaufwand, das vertrauensvolle Gespräch sowie die fachlich kompetente, transparente Aufklärung, um die perspektivischen Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten einer Impfung auf dem Weg zu einer Renormalisierung aufzuzeigen und zu plausibilisieren. Das alles wäre aber sicherlich eine gute Investition, wenn damit der Schaden einer ge- oder zerstörten Arbeitsatmosphäre und einer arbeitsrechtlichen Eskalation vermieden werden könnte.
Wenn zukünftig sich (hoffentlich) herausstellt, dass die Impfung über den primären Schutz vor Erkrankung hinaus auch die gewünschte „sterile Immunität“ bewirkt (bestenfalls auch Bedenken bezüglich Langzeitschäden zerstreut werden), dann wird gewiss eine Impfpflicht erneut auf den juristischen Prüfstand gezogen und gegebenenfalls anders beurteilt werden als bei dem derzeit vorhandenen medizinischen Kenntnisstand.
Univ.-Prof. em. Dr. Dr. Dipl.-Jur. Ludger Figgener
Poliklinik für Prothetische Zahnmedizin und Biomaterialien
Waldeyerstr. 30, 48149 Münster
figgenl@uni-muenster.de