Metastudie aus Österreich

Medizinerinnen haben höheres Suizidrisiko als ihre Kollegen

Ärzte haben ein erhöhtes Suizidrisiko. Das zeigte schon eine Publikation aus dem Jahre 1903. Eine Metaanalyse der MedUni Wien beleuchtet diesen Zusammenhang nun genauer. Besonders gefährdet sind Ärztinnen.

Dass Mediziner einer größeren Gefahr ausgesetzt sind, Selbstmord zu begehen, war schon vor 120 Jahren einem Autor aufgefallen. Als Gründe nannte der nicht namentlich genannte Verfasser damals im US-amerikanischen Ärzteblatt den Wettbewerb mit Quacksalbern und religiösen Sekten, die ihnen ins Handwerk pfuschen, als auch das Überangebot an Ärzten.

Die meisten früheren Studien berichten über höhere Suizidraten bei männlichen und weiblichen Ärzten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, bilanziert nun ein Team aus Wien. Die bisherigen Ergebnisse der Metaanalysen zum Thema sind jedoch uneinheitlich: Die mittleren Effektschätzungen der ersten Metaanalyse 2004 kommen zu einer signifikant erhöhten standardisierten Mortalitätsrate von 1,41 für männliche und 2,27 für weibliche Ärzte. Die Auswertung umfasste damals 22 Studien von 1910 bis 1998 und zeigte dabei „eine gewisse Heterogenität der Studienergebnisse“, wie die Forschenden erklären.

Eine zweite Metaanalyse, die 2020 neun Studien mit Beobachtungszeiträumen zwischen 1980 und 2015 umfasste, stellt wiederum eine signifikant verringerte Selbsttötungsrate von 0,68 für männliche und gleichzeitig einen signifikant erhöhten Wert von 1,46 für weibliche Ärzte fest.

Dunkelziffer steigt mit Stigmatisierung

Für die heterogenen Resultate machen die Autoren der neuen Untersuchung methodische Unterschiede im Studiendesign, bei den Ergebnismaßen und beim Grad der Altersstandardisierung verantwortlich. Darüber hinaus wiesen einzelne Länder und Weltregionen ein unterschiedliches Maß an Stigmatisierung von Suizid im Allgemeinen und unter Ärzten im Besonderen auf, „was mit unterschiedlichen Risiken der Dunkelziffer, dem Zugang zu Unterstützungssystemen und allgemein unterschiedlichen Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen verbunden ist".

Das Suizidrisiko ist nicht höher als in der Bevölkerung, aber ...

Für ihre eigene Untersuchung wählten die Forschenden um Eva Schernhammer von der Medizinischen Universität Wien zwischen 1960 und März 2024 erschienene Arbeiten aus und suchten auch nach unveröffentlichten Daten aus Quellen und Datenbanken, die in den eingeschlossenen Arbeiten aufgeführt sind. Ausgeschlossen wurden dabei Studien, die nur bestimmte Suizidmethoden bei Ärzten, nicht-tödliches Suizidverhalten oder -gedanken, psychische Gesundheit und Burn-out sowie Suizidprävention erforscht hatten.

Überlappende Zeiträume in den gleichen geografischen Regionen wurden in den eingeschlossenen Studien vermieden, so dass jeder Tod eines Arztes durch Suizid nur einmal in das gepoolte Ergebnis eingerechnet wurde. Im Fall von Überschneidungen zählte jeweils nur die methodisch hochwertigere Studie. Am Ende gingen 39 Artikel in die Auswertung ein, von denen 38 über 3.303 Suizide bei Ärzten und 26 über 587 Suizide bei Ärztinnen berichten. Ergebnis: Insgesamt war das Suizidrisiko bei den Ärzten nicht höher als in der Allgemeinbevölkerung. Bei Ärztinnen war das Suizidrisiko jedoch deutlich höher (76 Prozent).

„Ärzte arbeiten ständig gegen die eigenen Interessen“

Das Editorial im Journal of the American Medical Association JAMA vom 25. Juli 1903 verweist auf Recherchen der Chicago Tribune. Die Zeitung hatte, offenbar angeregt durch die bekannt gewordene Zunahme von Selbstmorden von Ärzten in Großbritannien, alle verfügbaren Aufzeichnungen dazu für die USA überprüft. Dabei stellte das Blatt fest, dass zwischen 1890 und Mitte 1903 in den USA 519 Selbsttötungen von Medizinern öffentlich wurden. Die durchschnittliche jährliche Fallzahl pro Jahr lag bei etwa 41, die geringste bei 23 im Jahr 1891, die meisten 53 Fälle wurden 1893, im Jahr der Wirtschaftskrise, gemeldet. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1903 sei zwar kein überdurchschnittlicher Zuwachs wie im Ausland zu beobachten gewesen, heißt es weiter, aber auch so seien die jüngsten Zahlen „schon beeindruckend genug: Sie liegen weit über der durchschnittlichen Selbstmordrate in der Allgemeinbevölkerung“.

In Großbritannien habe man die steigenden Selbstmordraten unter Ärzten größtenteils auf Einkommenseinbußen zurückgeführt, so das Journal damals. „Sie leiden dort unter Überbevölkerung des Berufsstands, Konkurrenz durch Quacksalber und Ausbeutung des medizinischen Berufsstands durch Arbeitervereine.“ In dem USA wäre die Lage sogar noch schlimmer, schrieben die Autoren: Immerhin gebe es im Verhältnis zur Bevölkerung doppelt so viele Ärzte wie in Großbritannien. „Darüber hinaus wird die Welt gesünder, und diese Gesundheit ist wiederum größtenteils der Arbeit von Ärzten zu verdanken, welche ständig gegen ihre eigenen Interessen arbeiten." Denn wenn sich durch ihre Bemühungen die Morbidität stark verringere, verringere sich schließlich auch das Einkommen des Berufsstandes.

Auch in den USA leide die Ärzteschaft unter der Konkurrenz durch Quacksalber und Sekten, hieß es weiter. Gleichzeitig gebe es eine Schwemme an Absolventen, die auf den Markt drängen, weil etwa doppelt so viele Mediziner ausgebildet würden, wie erforderlich wären, um die natürlicherweise entstehenden Vakanzen in der Branche zu besetzen. Angesichts dieser Tatsachen sei es nicht verwunderlich, so das Fazit der Autoren, „dass Schwächlinge, krankhaft Veranlagte und solche ohne hohe Prinzipien und moralische Hemmungen sehr leicht Selbstmord als direkteste Möglichkeit wählen, ihre Probleme zu beenden. Dass nicht mehr Leute dies tun, spricht unserer Meinung nach für die Branche.“

Die Analyse der zehn neuesten Studien im Vergleich zu älteren Studien ergab, dass die Suizidrate sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Ärzten mindestens seit 1985 zurückgegangen ist, obwohl die Rate bei Ärztinnen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung weiterhin signifikant erhöht war (24 Prozent höher).

Die Suizidraten gehen ­mindestens seit 1985 zurück

Die Analyse der zehn neuesten Studien im Vergleich zu älteren Studien ergab, dass die Suizidrate sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Ärzten mindestens seit 1985 zurückgegangen ist, obwohl die Rate bei Ärztinnen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung weiterhin signifikant erhöht war (24 Prozent höher).

Die sehr heterogenen Ergebnisse deuteten darauf hin, dass das Suizidrisiko für männliche und weibliche Ärzte in verschiedenen Ärztepopulationen nicht konsistent ist, mutmaßen die Forschenden.

„Daher ist die gepoolte Effektschätzung nur bedingt aussagekräftig, um das Suizidrisiko für Ärzte im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung insgesamt zu beschreiben.“ Die genauen Ursachen für diesen Rückgang seien nicht bekannt, aber eine stärkere Sensibilisierung für psychische Gesundheit und die Unterstützung von Ärztinnen und Ärzten am Arbeitsplatz in in den vergangenen Jahren könnten eine Rolle gespielt haben.

Als weitere Limitationen beschreiben die Autoren die Konzentration der Evidenz auf Europa, USA und Australasien sowie unterschiedlich große Dunkelziffern bei Suiziden. So gebe es Anhaltspunkte für eine Untererfassung von suizidbedingten Todesfällen in der Ärzteschaft im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Gleichzeitig seien trotz der großen Anzahl der eingeschlossenen Berichte mehrere geografische Regionen immer noch unterrepräsentiert, was die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse einschränke.

Die Studie:
Suicide rates among physicians compared with the general population in studies from 20 countries: gender stratified systematic review and meta-analysisBMJ 2024; 386 doi: https://doi.org/10.1136/bmj-2023-078964 (Published 21 August 2024)

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